Mittwoch, 12. August 2009

Randerscheinungen im Tanz


erschienen in Ensuite Nr. 80 S. 21-23:

pitiè! von Alain Platel

Vier ausverkaufte Abende im Theaterhaus der Gessnerallee boten ein unbekömmliches Sujet: Die weltbekannte Companie Les Ballets C de la B blickt auf das irdische Elend und fleht um Erbarmen.

Ein unbekömmliches Sujet

Rohe Holzplanken bilden einen Podest im Hintergrund der Bühne, welchen wie bei Musikfesten ein kleines Orchester krönt. Daneben ragt ein hölzernes Turmgerüst, von dessen 'Zinnen' bald ein Ima

m in die Ferne tönen wird. Und das inmitten Bachs Matthäus Passion. Das Spirituelle der Musik ist universell. Für diese Botschaft steht das Künstlerpaar Platel & Cassol seit ihrer Bearbeitung der Marienvesper Monteverdis für das Stück VPRS im Jahre 2006.

Auf der Bank vor den Planken reihen sich Bauarbeiter, das profane Licht von oben leuchtet kalt die nächtliche Baustelle aus. Die ausländischen Arbeiter erheben sich ab und an und brettern ihr rohe Break-Sequenzen hin, Körpersprache ist wohl ihr üblicher Austauschmodus. Ein lässig geflogener Pflasterstein üb

ergibt frechkalkuliert dem nächsten 'das Wort'. An einem Tisch abseits ist eine andere Welt: durch innere Haltung sich still verbunden sitzen drei Figuren, eine schwarze Sopranistin als Mutter Maria, Magdalena und der afrikanische Countertenor Serge Kakudji als Jesus. Sie werden gern mal von den Arbeitern angepöbelt. Denn die religiöse Innerlichkeit flösst diesen keinen Respekt ein. Da hilft auch nicht der ruhige authentische Gesang der Matthäus-Passion, zumal unterschwell

ig-jazzig die unbekümmerte Jetztzeit schwingt. Entsprechend fremdartig wirkt es, wenn der zurückhaltende Jesus sich auf die Arie “Das Wort ist Fleisch geworden” unter das Volk mischt. Ätherisch lässt er sich auf die Bank der Lebenden nieder. Anzügliche Anmache und Provokation ist da aber die Umgangsform. Denn hiernieden auf Erden wird das Fleisch angepackt. Und man prüft sich auf Herz und Nieren. Die Arbeiter greifen sich tief ins Gewebe und packen, tragen einander 'am Fell'. Dann wieder vereint die Bank sie still wie Jünger der zwölfgliedrigen Kette des letzten Abendmahl-Bilds.

Allmählich scheint die frohe Botschaft in ihnen zu keimen. Mitten im Leben und inmitten der Bühne wippen sie dann einig, wenn nicht einfältig, auf den nackten Fusssohlen vor-rück, vor-rück und beugen sich demütig vornüber. In der Masse ist das ein starkes Bild für die Umwälzung ihres Lebens. 'Kopfüber' (bouleversé) ist eine Haltung, in der sie marschieren, wischen und beten.

Dann perlen die Szenen aus dem Leben Jesu ab in einer schnellen Folge von tableaux vivants. Dramatische Episoden gefrieren in einzelne bühnengrosse Bilder, mit verschränkten Beteiligten, wallenden Gewändern, ausholenden Armen und manch bedeutsamem Blick gen Himmel. Arrangiert nach Michelangelos dyn

amischer Manier bevölkern im Schwung begriffene Jünger am Boden lauernd, andere in die Höhe sich reckend oder ins Firmament enthoben alle drei Bildebenen - für einen starren Moment. Vereinzelt entdeckt man Platels Leitmotiv, die Ausdruckskraft von körperlichem Leid: Finger und Füsse abgespreizt und verbogen vor Schmerz. Sie scheinen hier im ikonographischen Feuerwerk dem Maler Matthias Grünewald entlehnt. Der schaute für seine Kreuzigungsbilder das Leid einer krampfartigen Lähmung im Mittelalter ab. Doch unser Mitgefühl bleibt verschont. Denn die Theatralik der gereihten Bilder, mit dem Attribut der kämpferischen Axt versehen, erinnert uns an heroische Statuen der Arbeiterbewegung, die wir nun auch schon fallen sahen. Und das Material des sich blähenden Blaus vom Gewand ist das der Tragetaschen von Ikea.

Spätestens aber, wenn auf das berühmte Choral "Oh Haupt voll Blut und Wunden" einer der Break-Freunde (Judas?) in kreuzform auf Jesu Schultern lastet und dieser dennoch in unschuldig-hohen Countertenortönen weitersingt (!), ist der Zuschauer wieder emotional in das Geschehen geholt.

Wenn der Tod in drei Tonlagen beweint und besungen wird, die Klage dreifach gefärbt aus drei Richtungen tönt, wird Fabrizio Cassols Rezitativbearbeitung polyphon, dicht, aber stimmig. "Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt," wie es dort heisst, gilt nämlich für Mutter, Magdalena und Jesus. Die Jüngersch

ar tanzt noch geeint, doch von starken Bewegungseinbrüchen (in den Combrés, Rumpfbeugen, z.B.) und verkrampften Händen gezeichnet.

Ein Wendepunkt ist die Auferstehung. Der stille Jesus wird quicklebendig. Selbstbewusst wie ein Popstar - mit dem passenden Christ-T-Shirt - rockt er vom Podest der Pietá. Dann welt(religionen)gewandt windet er sich in eine Krishna-Pose meditativ. Der blutjunge Countertenor von Tänzerstatur Serge Kakudji ist eine eindrückliche Besetzung. Doch als sich Jesus umschaut: Elend allenthalben. Maulklappen sind den Menschen (den Gläubigen? den Katholiken?) angelegt, sie schleifen einander an den Haaren herbei und brüllen in die Beichtstühle. Ein Büssender etwa: "I love you all! I love my sister!" Fliegende Pflastersteine rhythmisieren die spirituelle Musik. Sie haben die Symbole im Visier, den Turm, wenn nicht den Himmel selbst. "And what do you feel now?", muss sich Jesus fragen lassen. Die uralte Theodizee-Frage verstummt ihn. Er rollt die entsetzt aufgerissenen Augen und verzerrt den Mund. Die manieriert-stilisierte Gestik und Mimik geht in der Wucht auf, mit der sich das Innerste seinen emotionalen Weg durch den Körper nach aussen bahnt. Auch wo Jesus die Hand auflegt, entsteht scheinbar kein Heil. Berührt er die Schulter eines Mannes, stakst-stolpert dieser wie elektrisiert los. Er steht unter Strom und gebärdet sich so ungelenk, dass Jesus fassungslos den Kopf hängen lässt. Dieser geistig zurückgebliebene Mann wird Jesus die Träne abwischen. Denn was wir erst als behinderte Bewegung wahrnahmen, erkennen wir langsam als Freudentanz. Und hier ist der Trost für unsere Welt des Wettbewerbs mit den smarten Gew

innern: "Selig sind

, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer". Wenn die Jünger im Verlauf zunehmend die Herrschaft über ihre Glieder verlieren und mitunter spastisch anmuten, so ist das ein Bekenntnis. Nicht zum modisch gewordenen integrativen Tanz, sondern zur menschlichen Tiefe der Einfalt. Und zum Vertrauen in uns Zuschauer, dass wir die Tiefe und die Freude der Andersartigen lesen lernen.

Interview mit Alain Platel

Anlässlich der schweizer Uraufführung von Pitié sprach Ensuite mit dem Choreographen.

Ensuite: Tanzcompanien experimentieren mit Behinderten, integrative Tanzgruppen spriessen weltweit aus dem Boden und Comunity Festivals holen sie auf ihre Bühnen wie unlängst in Bern, Genf und Zürich. Umgekehrt ähneln Werke von VIP-Choreographen wie William Forsythe in ihren Installationen zunehmend elendem Gewürm. Kürzlich mutierte der Hoffnungsträger der Schweizer Tanzszene, Foofwa d'Immobilité, zu einem Fall mit neuro-pathologischen Symptomen der Chore. Was halten Sie von der Entwicklung?

Alain Platel: Ist das ein Trend? Ich kenne nicht Forsythes Entwicklung. Aber ich komme aus einem ganz anderen Eck. Ich bin kein Tänzer-Choreograph und habe die wenigen Tanzkurse, die ich besuchte, vor Ewigkeiten gemacht, wie mir scheint. Für mich ist der Umgang mit dieser Bewegungssprache eine Notwendigkeit. Sie rührt direkt von meinem ursprünglichen Beruf her. Ich war Heilpädagoge und arbeitete jahrelang mit schwerbehinderten Kindern. In den ersten Choreographien, die ich unternahm, hatte ich diese Körpersprache im Hinterkopf, getraute mich aber noch nicht. Seit vier-fünf Jahren setze ich sie ein.

Wenn sich ein Trend abzeichnet, würde mich das nicht beunruhigen. Das gibt es in der Geschichte der Kunst immer wieder, dann folgen Kopien von Kopien...Wichtiger ist es, dass seelenverwandte Künstler über Genre hinweg einander inspirieren. So entdeckten eine belgische Bildhauerin und ich Gemeinsamkeiten in unseren Werken.

Ensuite: Eine Trendwende dagegen scheint sich hinsichtlich der Technik abzuzeichnen. Sie konstatierten das in Belgien. Die Anfänge des zeitgenössischen Tanzes in Flandern, sagten Sie - und meinten damit auch die berühmte Companie Rosas? -, waren amateur-inspiriert. Auch Sie trugen zu dieser Bewegung bei und profitierten von ihrer Offenheit gegenüber tanzfremdem Einfluss. In der jüngsten Produktion

dagegen tauchen die Tänzer mal kurz kopfüber in eine Arabesque (hinterm Rücken hochragendes Spielbein) und drehen auch noch dabei. Entdecken Sie die Virtuosität?

Alain Platel: Ja. Zu Beginn arbeitete ich mit Amateuren. Dann begann ich professionelle Tänzer hinzuzuziehen. Die Konfrontation mit ihnen war sehr fruchtbar. Die Profis staunten über das instinktive natürliche Anpacken von Herausforderungen, die Amateure über den meisterlichen Umgang der Profis damit.

Im Allgemeinen aber zensieren sich die Tänzer in der Tanzszene selbst: "ich habe keine grossen Écartés (seitlich gespreiztes Bein entweder auf einem Standbein oder in der Gretsche) zu machen, denn ich tanze ja in einem rüttel-schüttel-zeitgenössischen Tanz." Als diese Profis aber in meinen Proben in den Pausen lustvoll hervorpreschten und sich an den virtuosen Show-Offs ergötzen, ist mir klar geworden, was für ein Potential da schlummert.

Insofern ich mich mehr und mehr von den sozio-politischen Themen abwende und Reisen ins innere Seelenleben unternehme, erschliesst sich mir mit der Virtuosität ein komplexes Instrumentarium, ein Kompass, eine lesbare Karte, ein Echolot mit Feinstabstimmungen. Mit der meisterlichen Körperbeherrschung sind schlicht mehr Nuancen zu erfassen. Sobald die Tiefe und Komplexität eines Gefühls sondiert ist, wird die Technik sie wie ein Vergrösserungsglas den Zuschauern erlebbar machen. Das ist ein Entdeckungsabenteuer für mich, denn bislang glaubte ich Gefühle eher durch Musik mitteilbar.

Einen Schlüssel zu den Gefühlen boten mir Filmaufnahmen des Psychiaters Arthur Van Gehuchte vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Die Patienten, die sich der Worte nicht bedienen konnten, liess er in der Anstalt durch freie Räume der Anstalt bewegen und filmte sie. Als ich das Material meinen Tänzern zeigte, sahen sie sofort: die Patienten drücken ihre Gefühle über Bewegung aus. Und viele Episoden boten den Tänzern einen Ausgangspunkt beim Erforschen von Ausdruckformen verwandter oder ähnlicher Gefühle. Was ich früher bei der Arbeit in den Anstalten nur ahnte, ist für mich heute gewiss: die Zustände (wie epileptische Anfälle) dieser Patienten rühren von ihrer Hypersensibilität. Sie sind empfänglicher für die wesentlichen Dinge des Lebens.

In England sind Behinderte stark in der Gesellschaft integriert. In den Theatern ist viel Rau

m bei den Zuschauern für sie reserviert. Und sie kommen in meine Vorstellungen zuhauf. Doch einmal, an einer bedeutsamen Stelle raunte ungehalten ein behinderter Zuschauer in die Stille. Wie in einem Bann. Die Aufsicht beförderte ihn hinaus. Das traf mich sehr. Schade, meine Tänzer waren nämlich vom unwillkürlichen Röhren stimuliert. Erst wenn Zuschauer die fremdartigen Bewegungen und Geräusche schätzen lernen, wird Integration erfolgreich sein.

Interview mit Foofwa d'Immobilié

Inzwischen hat sich das Enfant Terrible der Schweizer Tanzszene auf die Materie gestürzt. Genauer: auf die neurologisch bedingten Symptome Chore. Als Tänzer-Choreographen hat ihn eine ganz andere Motivation zu diesem Experiment getrieben. Nicht ein soziales Anliegen, mit dem man sich künstlerisch auseinandersetzt, wie bei Alain Platel.

Ensuite: Sind auch Sie nun auf den Zug gesprungen, der die Randerscheinungen der Gesellschaft ästhetisch ausschlachtet?

Foofwa: Nein, also Moden in der Kunst interessieren mich gar nicht. Ich experimentiere an so vielen verschiedenen Fronten gleichzeitig, dass ich dafür nicht anfällig bin, glaube ich.

Ensuite: Was also war Ihr Beweggrund zu diesem recht unansehnlichen Experiment, das Konvulsionen und krampfartigen Zuckungen nachgeht?

Foofwa: Ich war am Gefühl dieser Symptomatik interessiert, dieser vollständigen Unkontrollierbarkeit von Bewegung. Das ist auch die medizinische Analyse von Chore: die Unkontrollierbarkeit von Bewegung. Ich wollte wissen, wie man sich dabei fühlt.

Ensuite: Und?

Foofwa: Das Hin- und Hergeworfensein ist beängstigend. Man ist weniger der Akteur als vielmehr der Bewegte. Man fühlt sich wie ein Objekt. Und da lauert Gefahr. Der Leib wird gebeutelt. Dies alles zieht auch einen ganz spezifischen Geisteszustand nach sich. Man spürt den Sinn für die Realität schwinden. Das ist recht tragisch.

Ensuite: Viele Choreographen oder Regisseure suchen den Weg, den ein Geisteszustand über den Körper (des Darstellers) für uns Zuschauer erlebbar bahnt, d.h. ausdrückt. Sie suchen hier den umgekehrten Weg. Den Weg von der Somatisierung zurück.

Foofwa: Ja. Und besonders überraschend war, als sie sich verselbständigte. Als ich während der Probenphase nachts aufwachte und in Krämpfen lag.

Ensuite: Als Tänzer-Choreographen zeichnet Sie dieses Experiment. Was sind die Folgen? (Vergessen wir nicht, Ihre Vergangenheit birgt eine solide und anspruchsvolle Ballettausbildung...)

Foofwa: Das ist in der Tat so. Indem ich meine Stücke an mir ausprobiere, werden sie durch meinen Körper geknetet. Mein Körper einverleibt sich jede konkrete künstlerische Auseinandersetzung und verstaut sie in eine Art leibliches Gedächtnis. Das wird gewiss meine weitere Arbeit irgendwie beeinflussen. Der unmittelbarste Einfluss war aber in der Probenphase sichtbar. Meine Mitarbeiter erlebten mich nervöser, kraftvoller, aber auch gewaltgeneigt...

Ensuite: Im Rahmen des Genfer Musikfestivals war Chore mit seinen vor Ort waltenden Musikern eine Art Performance. Sah das Publikum Ihre Bewegung als Choreographie?

Foofwa: Teils-teils. Aber diese Ambiguität war wesentlich für das Konzept. Es war nicht auszumachen, ob ich krank war, schauspielerte oder einen Tanz absolvierte. Der Musiker, der etwas abseits das Geschehen beobachtete, während er an Schaltern herummanövrierte, glich einem Psychiater...

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