Montag, 8. März 2010

Release-Technik


Release! Eine Technik?
Die Anfänge
Was ist diese ephemer anmutende Release-Technik ? Wo man sie vermutet und anfragt, wird sie meist verleugnet. Die erste Release-Comunity wurde in Amerika 1999 gesichtet. Die Entdecker-Zeitschrift hiess Movement Research Performance Journal. Dabei reicht der Stammbaum der ‘Gemeinschaft’ zurück in die Hippie-Zeit der 60er. So vielfältig die gesellschaftliche (Miss-)Bildungen waren, von welchen sich die Hippies absetzten, so auch die im Tanz.
Dabei war ihnen gar nicht in erster Linie die strapaziöse Ausformung und Verrenkung des Hochleistungstanzes, des Balletts, ein Gräul. Jede autoritäre Ausprägung einer « Schule », auch die Martha Grahams, samt Ideologie, Vorgaben und Imitationsanspruch, entlockte ihnen ein müdes Gähnen. Der Pathos der Moderne griff nicht mehr. Den wahren Spass fanden sie im gleichberechtigten Miteinander beim Experiment. Kein Guru hob sich ab, um eine Gefolgschaft abzusegnen, keine Hierarchie war gefragt. Entsprechend war die einzige Verkündung dieser Gegenbewegung ein Non-Manifest. Es entsprang der Feder Yvonne Rainers, einer der handvoll Experimentierlustigen der Judson Church, einer ehemaligen Kirche in New York.
Ein anderer Experimentator des dortigen Körper-Bewegung-Labors war Steve Paxton, der vor allem auf das Zusammenspiel der organischen Elemente setzte. Welche Kräfte wirken im Kontakt aufeinander und wie explosiv lässt sich Dynamik entfachen? Die Erkenntnis floss dann in seine später sogenannte Contact Improvisation ein (vgl. Ensuite Nr. 66/67).
Zen ruhte über alles
Ob in meditativen Eigenkörpererfahrungen oder in Gefühls- und Bewegungsexplosionen, man liess erst einmal geschehen. « Release! » war das Motto, aber noch kein Begriff. Die Gemeinschaft war offen, weltoffen und durchlässig. Asiatischer Kampfsport (über Steve Paxton) war genauso willkommen wie somatische Praktiken einer Alexander-Technik. Der Holländer .. Alexander, als erkrankter Sänger, war ein Vorreiter ganzheitlich-heilsamer Körperkultur. Wie viele noch heute erfahren können, geht sein Verfahren körperlichen Spannungen auf die Spur. Frederick Alexander mit den fast lahmgelegten Stimmbändern war der erste, der an der Technik genesen konnte.
Während die Leistungsgesellschaft, samt Wirtschaftswunder, sich Infarkte erarbeitete und der westliche Segen anderen aufoktroyiert werden sollte (Vietnam) blühte der unambitiöse Tanz der Hippie-Zeit. Er riss die Grenzen zum Nicht-Tanz nieder, und erweiterte den Kreis der so Beglückten. Aussen vor blieben – wohl freiwillig – die zielstrebig Ehrgeizigen « mit aufgeplustertem Brustkorb». Trisha Brown, Teilnehmerin der ersten Stunde, berichtete in den 70ern[1], sie wäre von Anfang an gegen diese « puffed out ribcage » gewesen. Ihr schwebte vielmehr die natürliche instinktiv koordinierte Bewegung vor Augen, die ‘organische’ eben. Trainierte Tänzer hätten diese verlernt. Statt sorgsam aus einer Elite zu rekrutieren, tanzten ihr wohl die - mit LSD ohnehin enthemmten – jungen Leute geradewegs in die Arme.
Und was übten sie? Sich fallen zu lassen ohne sich weh zu tun beispielsweise. Steve Paxton, der dies aus asiatischen Sportarten kennt, berichtet, wie der damalige Zuschauer sich vorerst nicht abfinden konnte, im Tanz einen Handstand oder einen beherrscht abrollenden Fall zu betrachten.[2] Sie woben Alltagsbewegungen ein, auch das Gehen (daher ihr Spitzname Pedestrian) und verwischten gerne Konturen : wenn Paxton in seinem Solo Transit Bewegungsabfolgen mit markierender (nur andeutender) Qualität vorführte, war die Lesbarkeit samt nötiger Schärfe dahin. Zumal die Dynamik in einem Diminuendo entglitt.
Slow-Down, eine damalige Entdeckung?
Energiesparen, Überspannung abbauen war durchaus ihre Idee, auch ohne grünem Anstrich. Es beschleicht uns die Frage: entsteht damit nicht ein schlaffer Low-Energie-Brei? Die Verfechter wehren sich: Release sei nicht gegen den Einsatz von Spannung, sondern gegen deren Vereinnahmung. Gegen verinnerlichte Gewohnheiten wie die typische Balletthaltung, das beständige Hochziehen beispielsweise. Lasse man erst einmal zu, das eigene Gewicht zu spüren, dann greife auch der Schwung, und die Nutzung des Momentums bringe Abwechslung in die Dynamik. (Das Momentum ist der Umkehrpunkt eines Schwungs, wie bei einer anrollenden Kugel, die auf dem Hügel fast zum Stillstand kommt, bevor sie abwärts ihre Bahn nimmt.) Und das auf verschiedene "Etagen" verteilt, von der Luft bis zum Boden, ja vor allem dem Boden. Auf dem hinzugewonnenen Terrain, seit Martha Graham und dem Break-Dance zwar kein Neuland, Release-Tänzer fühlen sich da heimisch. Wieviele Spiralen lassen sich da nicht kreieren, wie oft sich nicht hoch- oder runterschrauben?
Innen- statt Aussenansicht
Wenn nicht Körperlinien und Posen die Vorgaben sind, dann wohl auch nicht geometrische Abbilder. "Die Release- wie auch Alexander-Technik hat weder geometrische Repräsentation des eigenen Körpers noch mechanische. Man sucht nach einem neuen leiblichen Selbstverständnis, eine neue Phänomenologie. Ich sage oft: 'Fühlt, wie beim Tanzen sich das Fleisch windet oder was unser grösstes Organ, die Haut, uns vermittelt!' ", verrät uns Michou Swennen. Sie unterrichtete im Tessiner Sommerkurs unter dem Label "Zeitgenössischer Tanz".[3] Anna Halprin sei durchaus ein Ahne der Release-Technik, findet sie. Gemeint ist die Amerikanerin, welche die Doris Humphrey & Charles Weidman Company (dessen Solist José Limòn wurde) verliess und ihren eigenen Weg an der Westküste ging, vielmehr ertanzte. Anna Halprin war experimentell wie die Postmoderne der erwähnten Judson-Church-Gruppe. Betanzte aber keine Wolkenkratzer, sondern Strand, Äcker und Wald. Sie soll sinngemäss gesagt haben: "Es ist mir unverständlich, wie verlangt werden könne, den zentralen Teil des Körpers, das Becken, beim Tanzen still zu halten."[4] Eine solch rigide Aufgabenteilung des Körpers lag ihr fern. Ihr Befreiungsfeldzug ein halbes Jahrhundert nach Isadora Duncan war leise und friedlich, auch wenn Grössen wie Merce Cunningham bei ihren Workshops unter freiem Himmel auftauchten. In ihrem eben erschienen biographischen Film Breath Made Visible spricht niemand von Release-Technik. Die Vorreiter hatten weder Flagge noch Banner. Etikettierungen und Kategorisierungen sind das Steckenpferd der Nachwelt. Nur einmal fällt das Wort release, als sie nämlich 1975 todkrank zum Tanz als Therapie griff: "I had to release my destructive power" ('Ich musste meine zerstörerischen Kräfte freisetzen'). Sie war überzeugt, sich so der Krankheit zu stellen: das Unbewusste konnte beim Tanzen freiwerden. Vielleicht wurde mit dem Release diese Kunstart aus der Vorherrschaft des positivistisch messenden oder formalen Zugriffs befreit? Vergessen wir nicht, das New York City Ballet triumphierte ununterbrochen mit der Ästhetik George Balanchines. Wie Anna Halprin wollten manche eher den im Tanz beteiligten Kräften nachspüren. Und diese seien laut Susan Langers Philosophie der Kunst[5], vitale Kräfte, welche vor allem der Tanz uns vorführt. Und die anerkannte Symboltheoretikerin meinte das gar nicht mystisch.
Spätere Entwicklung
Nach ein-zwei Jahrzehnten Experimentierens und New Yorker Non-Dance stellte sich die amerikanische Postmoderne der Herausforderung technischer Versiertheit. Die Fachwelt feierte als wichtigste Entwicklung des Tanzes der 80er die Rückkehr zur Virtuosität. [6]
Nicht nur nahmen die Tänzer vermehrt wieder klassischen Unterricht, sie « bedienten sich vorhandener Stile und Techniken wie im Supermarkt ». Das ist durchaus im Sinne der Postmoderne.
Zeitversetzt in Europa
Die Wurzeln der Release-Technik sind weit verzweigt. Die Release-Lehrerin mit Limòn-Hintergrund Michou Swennen erwarb ihre Kenntnisse unter dem Label Mouvement Fonctionel, einer Mischung aus Alexander-Technik und Rosalia Chladek, meint sie. Sie gibt sie weiter an berühmte Companien wie die von Carolyn Carlson, Gallotta und Anne Teresa de Keesmaeker. Letztere wiederum hat ihre Kenntnisse aus New York. Als Absolventin der Mudra-Schule von Béjart sog Anne Teresa de Keesmaeker 1982 die amerikanische Postmoderne vor Ort auf. Wieder auf heimischem Boden gründete sie die Companie Rosas. Sie schlug ein wie der Blitz. Rosas tanzt Rosas wurde kunstvoll verfilmt und der fliessend-coole Stil wird vielleicht manchen von Ihnen noch im Kopf schwirren. Von dieser Choreographin erzählt Michou Swennen in einem Interview mit Ensuite, wie sie aus der Release-Idee heraus zu Beginn viele Amateure in ihrer belgischen Tanzschule P.A.R.T.S (in Nachfolge der abziehenden Béjart-Schule) einbezogen hatte. Doch das habe sich mittlerweile komplett verändert. Aus dem Interview mit Alain Platel (Ensuite Nr. 80) wissen wir, dass auch er die Virtuosität professioneller Tänzer für sich entdeckt. Wenn nun Tänzer mit purer Release-Technik, in Kursen erworben, zu einem solchen Choreographen stossen, treffen sie auf Probleme. Mark Bruce, derzeit Gastchoreograph für das Bern:Ballett, hat beispielsweise bei Rosas von Anne Teresa de Keesmaeker getanzt, doch er meint: "Loslassen (=Release) könne man nur, wenn man vorher etwas erarbeitet habe. Nur-Release-Tänzer vermögen meinen zusammengesetzten Bewegungsabläufen beim Vortanzen gar nicht erst folgen."
Von den unvermeidlichen Cross-Overs profitiert natürlich auch das Ballett. Sein Bewegungsweltbild ist immer weniger geometrisch und aristokratisch ausgerichtet. Manche Lehrer schwärmen: "Wenn Du die Spannung aus dem Nacken nimmst, kannst du dich plötzlich schneller bewegen!"
Identität
In Amerika, wo der Tanz schon früh in universitären Einrichtungen vermittelt wurde - es gab da ein halbes Jahrhundert vor Europa Tanzforschung -, tüfftelt man an der Identität der Release-Technik. Man merkt: viele verwenden zwar in Mischformen deren Prinzipien, sind aber keine Bekenner.[7]
Eine wichtige Frage treibt sie um: ist die Release-Technik stilprägend oder verträgt sie sich mit anderen Stilen? Mit jedem? Haben die Mischformen etwas Erfahrbares gemeinsam? Die Technik sei durchaus mit verschiedenen Stilen kombinierbar. Sagen die einen. Die anderen pochen auf eine stilistische Eigenart: selbst bei so unterschiedlichen Choreographen wie Eric Hawkins (Tanzpartner Martha Grahams) und Trisha Brown hätte die Release-Arbeit und Anwendung der Alexander Technik 'die Kanten entschärft'[8].
Damit ist aber nicht in erster Linie die Ausfransung von Linien durch flapsige Füsse, also etwas Geometrisch-Formales, gemeint. Es geht um einen Charakter der Dynamik und da tun die ForscherInnen gut daran, Rudolf von Labans Eukinetik anzuschauen. Anfang des 20. Jahrhunderts inventarisierte nämlich dieser Tanztheoretiker die Bewegungsqualitäten (vgl. Ensuite Nr. 62). Eine Laban-Kennerin an der Ohio-State-University[9] schaute im Inventar nach und meint: Labans Tabelle fehlt das passive Gewicht! /10/ Was das ist? Nicht der erwünschte Gewichtsschwund etwa, sondern ein Erspüren der Wirkung der Schwerkraft. Kein Dagegenhalten oder Herumtragen der Eigenmasse, was ein 'aktives Gewicht' wäre. Nun, die neue Bewegungsqualität hielt Einzug ins System. Die Eigenart des Release ist nun zu verorten, nämlich innerhalb des Zusammenspiels von Gewichtsverwendung, Tonus und Fluss mit den Koordinaten Raum(qualität) und Zeit(qualität): Der Release-'Stil' sei im Punkto Tonus mit seinem schwachen Muskeltonus und im Punkto Gewicht auf der negativen Seite der Skala - Dem Ephemeren ist ein Platz geschaffen...


[1] Brown and Dunn 1979, S. 169 zit. n. The Body Eclectic S. 160
[2] Banes 1993, S. 121 zit. n. The Body eclectic S. 159
[3] Der Tanzworkshop findet jährlich im August in Ascona statt (www.dancepromotion.ch)
[4] Dies gilt in erster Linie beim Ballett, aber mit Einschränkungen (z.B. der Contract) auch im modernen Tanz.
[5] Langer, S. K. (1953). Feeling and Form: a Theory of Art Developed from "Philosophy in a New Key" . New York
[6] Copeland, R. (1986). "The Objective Temperament: Post-Modern Dance and the Rediscovery of Ballet." Dance Theatre Journal 4(3).
[7] The Body Eclectic, S. 157
[8] The Body eclectic S. 113
[9] Die Mouvement-Analyse-Dozentin Melanie Banes
/10/ Die Verantwortliche des deutschen Laban-Ausbildungszentrums EUROLAB, Antja Kennedy, meint dagegen, daß in den USA schon seit 1982 das passive weight unterrichtet worden sei.