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Samstag, 12. Juni 2010

Steps # 12


erschienen in Ensuite Nr. 90 S.17

sowie in Auszügen auf www.tanznetz.de

Steps # 12. Das wohl attraktivste Tanzfestival der Schweiz findet alle zwei Jahre statt. Ensuite berichtet über fünf Veranstaltungen.

Die Schweizer können stolz sein auf ihr Migros-Kulturprozent, denn es ist wohl weltweit einzig, was der Unternehmer Gottlieb Duttweiler im Jahr 1957 ins Leben rief. Einmalig deshalb, weil die soziale und kulturelle Wohltätigkeit in den Unternehmenssatuten steht.

Automatisch, ohne argumentieren zu müssen, geht Jahr für Jahr ein Prozent des Umsatzes des Grossunternehmens an die Gemeinschaft, unser Gemeinwohl: unsere Kultur, Bildung, Freizeit und wirtschaftpolitische Fragen. Duttweiler war nicht Pionier heutiger Prestige-Events oder PR-Promotion. Duttweiler war schlicht gottesfürchtig. Die Verantwortung für den Schwächeren folgte daraus. Weil das Prozent umsatz- und nicht gewinnabhängig ist, kommen wir auch in Krisenzeiten zu einem ungeschmälert attraktiven Programmangebot. Das Schweizer Tanz-Festival Steps gibt es zweijährlich seit 1988. Im Geist des Migros-Kulturprozents versucht es zum Wohle der Gemeinschaft die gesamte Schweiz zu erreichen. Es bespielte diesjahr 29 Städte drei Wochen lang mit zwölf Companien. Mit Erfolg, denn gut die Hälfte der Veranstaltungen war ausverkauft

1. Aus den Flughafenhallen zum Symposium

Ein ganz wertvoller Beitrag des Festivals ist jeweils das Symposium. Sein Sinn? Die erlesenen meist ausländischen Gäste des Festivals, die durch das gesamte Land gelotst werden, sollten sich nicht nur in den Flu

ghafenvorhallen treffen, meint Hedy Garber, Leiterin der Direktion Kultur und Soziales des Migros-Genossenschaftsbunds. Nein, sie sollten einbezogen werden in inhaltliche Debatten. Zwei Drittel der Companieleiter von Steps #12 war auch

zur Stelle, dieses Jahr in den Vidmarhallen von Bern. Migros wünscht, aktiv Akzente in der schweizer Kulturlandschaft zu setzen. Dass Migros fördert und organsiert, das wissen wir, aber mit solchen thematisch gefassten Festivals und Symposien "investiert sie in Inhalte".

"Geld!"

Und was ist der Inhalt dieses Jahr? Zum ersten Mal sollte der Tanzmacher (Heinz Spoerlis Begriff)

im Mittelpunkt eines Symposiums stehen, sein künstlerischer, aber auch existentieller Werdegang. Kreativität und Karriere in der Choreographie war der Titel. Neben den doch wenigen Schweizer Choreographen, und natürlich Tänzern, waren Veranstalter, Förderer und Medienschaffende geladen. Die Presse glänzte durch Abwesenheit. Das visuelle Medium art-tv wird aber auf seine Kosten gekommen sein, als er Hans van Manen ins Visier nahm. Der Star der Geladenen war augenscheinlich in Höchstform. Humorvoll schilderte er, wie er zum Beruf kam. Wie er als Maskenbildner in die Tanzproben lugte - und bald für jemand einspringen sollte... Was wünsche Hans van Manen für den Tanz von heute? Der Rat eines der erfolgreichsten Choreographen adressiert an denheutigen Tanz könnte für die Anwesenden und jungen Choreographen unschätzbar sein. Doch auf die Frage ertönte es schlicht: "Geld!"

Dieser beschwörende Ruf wurde nach Manen-Manier aber sogleich humorvoll umgewandelt: "Wenn man den Tanz gerahmt an die Wand hängen könnte, sässen lauter Millionäre hier..."

Gelehrsam und mit Goethe-Zitaten gespickt sprachen 'Kreativitätsforscher' und Kunsthochschulrektoren von Kreativität und seinen Durststrecken. Ob den Betroffenen das von der Kanzel gesagt hilft, oder nur verstimmt, bleibe offen. Die Definition von Kreativität als Neukombination von Information im Wechselspiel von Konvergenz und Divergenz mag zwar biologische, psychologische und psychiatrische Erfahrungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Sie trifft auf Zellen nicht minder zu wie auf Choreographen, - und hilft in der Not keinen Schritt weiter. So wenig wie die müssigen Worte zur Sorge um den Nachruhm. Dies ist die einzige Sorge, die die ephemere Kunst nicht plagt.

Repertoirpflege als Chance

Eine Rednerin vom Fach, Karin Hermes, konstatierte - zwar in anderen Worten - wie der Tanz von heute rechts und links klaut. Für die Postmoderne der mobilsten aller Künste, des Tanzes, ist das durchaus legitim, doch besser wäre es, wenn man auch noch wüsste, was man klaut. So plädierte die Tanzrekonstrukteurin (sie holt notationgenau Tänze aus der Vergessenheit) und Choreographin für die Kenntnis aller Stilfrüchte, die auf dem Markt feilgeboten werden - und für deren Fairetrade. Damit aber die Früchte, noch bevor sie genetisch verändert (oder geklaut) werden, gekostet und ihren Namen in die Welt tragen können, bedürfen sie Märkte. Dafür brauchen, wenigstens die Früchte der Stilprägendsten einen wiederkehrenden Stand, an dem sie immer wieder als "Repertoir" hervorgeholt und aufgetischt werden können. - Wir Konsumenten könnten so auf den Geschmack kommen und sie unterscheiden lernen, bevor sie weiter zubereitet werden.

Intensive Tischgespräche

Wertvoll ist die integrierende Idee der Tischgespräche, eine Rarität in der Tanzszene. Da Förderer und Veranstalter so zahlreich zur Stelle waren wie die Künstler selbst, entstand ein sehr intensiver, zutiefst professioneller und erfahrungsgeladener Austausch. Träumte jemand z.B. gegenüber Sidi Larbi Cherkaoui sitzen zu dürfen? Dem Belgier Fragen zu seinen künstlerischen (Um)wegen zu stellen? Das Symposium bot an diversen moderierten Tischrunden mit den Companieleitern des Festivals dazu Gelegenheit.

Anerkennung, so ward an diesem Tag wissenschaftlich dargelegt, ist ein fester Pfeiler der Kreativität. Nämlich für ihre Motivation. Doch woher nehmen? Die belgische Tanzförderung ist weltweit vorbildlich. Der Schweizer Choreograph der freien Szene bettelt (abendfüllende!) projekt-weise um Geld, wird kaum angekündigt oder besprochen (die Schweizer Presse ist im Abbau und fusioniert) und Fachblätter gibt es keine mehr (die letzten drei gingen die vergangenen zehn Jahre ein). Was zunehmend den Ton angibt, ist die PR der Veranstalter und ihr Geschmack...

Wie gut tut da so ein Symposium, das wieder alle um den Tisch sammelt!

2. Beautiful Me , ein Stück mit afrikanischer Leuchtkraft


Steps stellt dieses Jahr seine Tanzstücke thematisch unter den Stern stilprägender Choreographenschicksale. Und da leuchtet Gregory Maqomas Stück bunt und hell. Es grenzt an ein feierliches Wunder, dem wir beiwohnen dürfen, wenn Maqoma sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Townships Soweto gezogen ein so positives und suggestives Werk schafft wie

Beautiful Me. Wie er in der Kindheit seinen Namen buchstabieren lernt (Gregory ist ein Zungenbrecher für die Xhosa, dem Volk, dem Nelson Mandela und Desmond Tutu angehören), hundertmal, lernt er auch die Liste derNamen, die in seinem Land (traurige) Geschichte schrieben. Doch er suchtnicht Rache noch Spuren seiner Ahnen, sondern verspielten Dialog. Die Spuren quellen ihm ohnehin aus den Gliedern: bevor er sich versieht und eine ausholende Spirale uns auffächert, ward schon die Erde angestampft und ihrem Geist die Kraft entliehen. Die Spirale selbst ist ein Geschenk des Inders Akram Khan, einem Schicksalsgenossen und gefeierten Choreographen in London. Auch er lernte die Kunst der Ahnen, den von den britischen Kolonialherren verpönten klassischen Tanz Kathak. Auch er fand zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung im Tanz von heute. Gregory sog den Kathak seines Freundes in sich auf wie begnadete Tänzer es tun: wie ein Schwamm. Wenn er mit einem weiten Rumpfkreisen die anvertraute Spirale in die Luft zeichnet, säumen feingliedrige Hindutanz-Finger die Shiva-fürchtige Pose. Doch dann folgt die Transformation: Greogorys Handflächen beginnen zu schwirren und zu flattern, ein weisender Zeigefinger verlässt das indische Symbolgebilde erzählender Geste, um auf die eigene Stirn zu pochen (in Kathak ist Eigenberührung tabu), und auf die Brust, sie als Büsser nach dem Gewissen abzuklopfen. Die Beine beben, doch sie folgen, mitgerissen, dem weisenden Finger, der ihnen den fernen Horizont deutet. In wenigen Minuten ist eine Geschichte erzählt, die Kontinente und ihre Identitäten verknüpft. Die Musik tut es ohnhin, denn das partiturlose Zusammenspiel der vier Musiker auf der Bühne verbindet die indische Sitar, Violine, Cello und Schlaginstrumente.

Wen interessiert, wo die zwei Minuten Material des Co-Choreographen Akram Khan stecken? Wen interessieren die virtuosen Verwandlungskünste, wenn Gregory von Vincent Mantsoe (einem weiteren Mit-Choreographen) anvertraute Tierahmungen vollbringt, stelzt wie ein Flamingo oder heranpirscht wie ein Tiger? Es ist der Dialog, der interessiert, den er webt und pflegt, auch mit dem Zuschauer. Wir helfen ihm am Ende, seinen Namen zu buchstabieren. Wiederholt. "Neunundneunzig", heisst's, und ein stürmischer Applaus bricht los.

3. Limón-Dance-Company

José Limóns Werke leben fort. Seine fünfzigjährige Companie ist vitaler denn je. Sie brachte viel Schwung und Atem in das Festival Steps #12. Auf dem Programm stand neben Limóns Klassiker A Moores Pavane, einem dichten choreographischen Meisterwerk von 25 Minuten, sein biblisches Stück There is a Time. Es ist ein programmatischer Tanz zu Salomos bekannter Textstelle "Alles hat seine Zeit".

Doch neben dem nachvollziehbaren ausdrucksstarkem Inhalt gilt für Schritt wie Schrift: die Form ist so sprechend wie des Predigers Wort. In der Form liegt Programm.

Schon Salomo wand die Weisheit in einen Reigen. Wie die grössten Kontraste im Leben dicht an dicht ihren Platz haben, so reihen sie sich bei Salomo Vers an Vers. Weinen und Lachen reichen sich die Hand. Wen wundert's, wenn die Kreisform José Limóns Stück There is a Time durchwebt? Sie ist am Anfang und Ende, vereint sinnbildlich die Kontraste und nimmt jeden einzelnen auf. Die getanzten Lebensphasen gliedern sich in ihr ein wie in den wiederkehrenden Zyklus der Natur der Mensch. Nach vielem hin und her, auf und ab mündet bei Salomo das Ende der Reihung, der Hass und Krieg, in den Frieden. Bei Limón wiegt sich da ein Kreis von Menschen, einander zugewandt, und formt das entsprechende Schlussbild.

Die Verwendung eines starken Sinnbilds allein ist noch nicht genial. Genial bei José ist, dass Kreise wie unmerkliche Kettenglieder die Choreographie durchziehn. Es kreist der Oberkörper oder ein imaginäres Gewicht rollt im Halbrund der Arme. Es kreisen die Köpfe, die durch die Fliehkraft einer Drehung ausschwingen. Wenn der Drehpunkt nicht in einem Körper liegt, sondern in der Mitte vieler, etwa beim Reigen, so schweissen die Tänzer sich gegen die Fliehkraft zusammen. Eine so ansteckende Erscheinung, die beim Kreistanz zum Einreihen einlädt: fest am Nachbarn verankert ist solch kraftvoller Schwung nur in Gemeinschaft zu erfahren und vor allem: wieder einzufangen. Ein in Wogen auspendelndes Phänomen, das in der Aus-Zeit von Kreistänzen ein seltener Blickfang ist.

Die Limón-Dance-Company pflegt aber nicht nur das Erbe. Sie belebt auch die Geschichte, die um José herum die Grossen prägte. Beispielsweise mit Anna Sokolovs Stück aus dem Jahr 1955, das in Bern zu sehen war. Es macht uns das politisch und gesellschaftskritische Engagement des modernen Tanzes wieder bewusst. Stilistisch eckt und schreit es, und kündet vom (deutschen) Ausdruckstanz. Und schliesslich vermittelt die Companie ihre jüngsten Sprossen, wie in Zürich zu sehen war: eine fliessende Choreographie des ehemaligen Solisten Clay Taglioferro.

4. HipHop wird Kunst

Was wünscht man sich mehr, als dass ein durch-und-durch-Künstler wie Bruno Beltrao sich einem Sprachkodex wie dem Break-Dance annimmt, noch bevor dieser gänzlich zur Attraktion verkommt? Bruno Beltrao lernte

den Kodex auf den Strassen der Vorstadt von Rio de Janeiro 1980. Mit 16 barst seine Kreativität und er gründete seine eigene Companie. Mittlerweile setzt er den Break-Dance dem choreographischen Know-how von heute aus.

Das wird am Programmheft deutlich, wo er grossen Wert auf den Einsatz von Raum legt. Dieser mag für den Break-Dance der Hinterhöfe eine immense Errungenschaft sein, der Zuschauer nimmt ihn gelassen für ein

Apriori. Doch Beltrao setzt damit Massstäbe: nie wieder werden wir durchgehen lassen, wenn Break-Dance-Figuren si

ch auf der Bühne in schäbigen Formationen (womöglich geometrischen..) gesellen. Wenn ehedem provokative Einzelkämpfer beim Batteln zu gereihten Show-dancer verkommen. Dank sei also dem Helden der Kunst wie Beltrao, der neue (Raum)wege sucht.

Atemberaubend ist ein Weg, den er seine neun Tänzer flitzen lässt. Man kennt ihn zwar, es ist die Manege, doch auf die Richtung kommts an: rückwärts rasen die atlethischen Körper ohne Geschwindigkeitsbeschränkung. Überholen gibts durchaus. Doch besonders beeindruckend sind die Ausweichmanöver des Gegenverkehrs. Nein, sie schauen nicht zurück. Auch nicht im Rückspiegel. Ihr blindes Abgestimmtsein ist die Quintessenz des Abends. Hatten die Individuen von Anbeginn an Kommunikationsprobleme, gegen Ende läufts reibungslos. Waren zu Beginn die Phrasen der Einzelnen monologisch selbst im Duett, gegen Ende tanzen neun gemeinsam. Hatten die Phrasen anfangs unabsehbare Schlusspunkte - ein Kopf, der statt einem i-Tüpfelchen nur abknickt, eine Schulter die verkrampft in die Höhe zuckt -, sind sie nach einer Stunde abgerundet. Lief zu Beginn der Austausch über missglückte Übersprungshandlungen, das zuckende Handgelenk, das ausbüchst und am Hinterkopf des Nebenmann zur Ruhe kommt, kreiste am Ende ein seliger Reigen. Auch wenn das vierbeinige Kreiseln ohne anzuecken an die wortlose Verständigung unserer langarmigen Vorfahren erinnert...

5. Trilogieabschluss: Babel(words)

Der gefeierte Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui hat unlängst in Brüssel das Abschlusswerk seiner Trilogie präsentiert: Babel(words). Das Tanzfestival STEPS holte es taufrisch in die Schweiz. Die Trilogie handelt mit humanistischem Anspruch von den Höhen und Tiefen menschlicher sowie religiöser Beziehung. Babel(words) ist ein theatralisches Werk, dessen Eklektik wohl Programm ist.

Am Anfang war das Wort. So beginnt die Bibel. Am Anfang war die Geste, so beginnt dagegen Cherkaouis Babel. Die Geste ging dem Wort voran, heisst es da. Doch Geste und Wort, die das behaupten, sind synthetisch wie eine Roboterstimme und die abgenutze Zeichensprache einer Stewardess an Board. Wie aber mag die Geste ehedem unverbraucht gewesen sein?

Da ertönen Trommeln (der fünf grossteils orientalischen Musiker) und die bunte Arbeitertruppe des Turms zu Babel hinter der Startlinie setzt ihre erste Geste: sie markiert ihr Gelände. Eine gute Elle bis zum Nachbarn, an den man stösst. Der wiederum reagiert und markiert: sein Territorium, eine Elle. Und so fort. Kurzgefasstes Drohgebärde reiht sich wie der Trommelschlag, zunehmend aggressiv. Diagonal in den Lüften arretierte Fusssohlen grenzen ihren Raum ab und wandeln rhythmisiert sich zum Kampfsport ohne Berührung. Die Eigenräume überschneiden sich, eine Elle greift bis in die Kernzone des andern, die Glieder dringen ein wie Enklaven. Schon früh lernt der Mensch, wie man mit andern den selben Raum teilt, - respektfordernd. Gewaltig.

Dann kommt die Neugier und Entdeckung des anderen. Die Entdeckung auch der Manipulation. Die synthetisch wirkende Stewardess-Figur, eine Überspitzung unseres Schönheitsideals, ist nämlich steuerbar. Gelenke und jedwede Auswölbung sind eine Klaviatur, an der sich genüsslich zwei Asiaten bedienen. Ein Hebeln bewirkt den Knick im Ellebogen, ein Druck das Drehen vom Hals. Die passende neurowissenschaftliche Rechtfertigung liefert uns wortreich ein Intellektueller - doch leider hat er uns zuvor schon erfolgreich die praktischen und metaphysischen Vorzüge des gigantischen Würfel-Designs (Bühnenbild: Antony Gormley) verkauft. Wir werden misstrauisch... Jede Geste des Redners sitzt, der Tonfall ist einstudiert wie der abgebrühter Vertreter. Auf dessen Rythmus echot das Ensemble synchron seine Gebärde. Im Rhythmus findet jede Gebärde ein Gegenüber, an dem sie angeheftet wird. Wie eine Brosche, oder eben - ein Manöver. Denn jeder Druck manipuliert: er knickt Ellebogen und dreht einen Hals. "Das Frontalhirn feuert dieselben Neuronen, ob wir berührt werden oder andere berührt sehen. Was auf die Empathieleistung des Menschen hinweist" säuselt der Sprecher. Oder auf das Know-how seiner Manipulation. Einfühlung und Einwirkung gehen oft Hand in Hand wie Cherkaouis Paare es zeigen: Ineinander vertrackt und verzahnt hantieren sie aneinander herum, kein Mensch weiss mehr, wer steuert und wer reagiert. Eine Bewegungsmaschinerie mit vier Ellbogen und zwei Hälsen, Impulsgeber und -empfänger in einem. Faszinierend.

Als letztes, nach schwindelerregend gedrehten und getürmten Riesenwürfel auf der Bühne , erfasst eine sehr erdene Bewegung das Ensemble. Eva (Navala Chaudhari) verführte bereits Adam, schlangengleich wand sie sich an ihm hoch und runter, umschlang ihn mit den Beinen und zog ihn, den Erschöpften, schliesslich zu Boden. Ein fulminanter erdverhafteter Tanz breitet sich da aus. Mit nacktem Oberkörper ist die Eva-Figur mal Nymphe, mit glänzender Haut dann wieder Schlange. Sie bäumt und wölbt sich in alle erdenkliche Richtungen, sie schleudert die Extremitäten des einen Körperendes zum anderen, ein vielseitiges Vorankommen (wüsste man nur, wo das Ziel ist). Beugen und schwingen lässt es sich vorzüglich auch mit anderen, und so steckt sie im Nu die Meute um sie herum an, alles kreucht und fleucht, übersät den gesamten Boden. Der Atem verbindet sie und schweisst die Bewegung zu einem Guss. Er macht die Energie hörbar, wie sie in einer fliessenden Spirale im Überschwang die Körper immer wieder hochschraubt und sich mannshoch entlädt. Oder saugt der Atem samt hochfliegender Arme an diesen Wendepunkten dem Himmel Kraft ab, um sie im Kreis auf den Boden gewunden zu erden? Ein Trance der Wiederholung zwischen den Gegensätzen. Ekstatisch.

Doch wie folgt eine Bewegungssprache aus der anderen? Wie löst die faszinierende die gewaltige ab, warum folgt die ekstatische danach? Chronologie im Werk ist seit Cunningham & Cage als ein Zufallsspiel entlarvt. Doch im Gegensatz zu jenen schürt Sidi Larbi Cherkakoui mit viel Symbolik unsere Erwartung zu verstehen. Verknüpft sind die verschiedenen Bewegungssprachen lediglich durch Worte, die wohlweisslich lose perlen können, nicht nur seit dem Fall von Babel. Wir finden keine Stringenz in der Bewegungsdramaturgie, noch eine choreographische Handschrift (zumal zwei zusammenarbeiten: Damien Jalet ist langjähriger Co-Choreograph). Die stilistische Eklektik ist Merkmal der Choreographen-Garde, die wie Cherkaoui aus der Wiege der Companie C de la B stammt. Wir lassen die Eklektik, spektakulär an diesem Abend dargeboten, dem gefeierten Wunderkind Sidi Larbi Cherkaoui des Themas zuliebe gern durchgehen. Zur Sprachverwirrung paart sich Tanzvielfalt. Doch nach dieser Trilogie warten wir auf eine Läuterung. Auch Genies, nicht nur arabische, vertragen ein Fasten.

Das Festival Steps ist und bleibt einer der Höhepunkte im Tanzangebot der Schweiz, das durchaus auch im Ausland als solcher wahrgenommen wird. Wir freuen uns auf die nächste spannende Ausgabe.

Montag, 8. März 2010

Release-Technik


Release! Eine Technik?
Die Anfänge
Was ist diese ephemer anmutende Release-Technik ? Wo man sie vermutet und anfragt, wird sie meist verleugnet. Die erste Release-Comunity wurde in Amerika 1999 gesichtet. Die Entdecker-Zeitschrift hiess Movement Research Performance Journal. Dabei reicht der Stammbaum der ‘Gemeinschaft’ zurück in die Hippie-Zeit der 60er. So vielfältig die gesellschaftliche (Miss-)Bildungen waren, von welchen sich die Hippies absetzten, so auch die im Tanz.
Dabei war ihnen gar nicht in erster Linie die strapaziöse Ausformung und Verrenkung des Hochleistungstanzes, des Balletts, ein Gräul. Jede autoritäre Ausprägung einer « Schule », auch die Martha Grahams, samt Ideologie, Vorgaben und Imitationsanspruch, entlockte ihnen ein müdes Gähnen. Der Pathos der Moderne griff nicht mehr. Den wahren Spass fanden sie im gleichberechtigten Miteinander beim Experiment. Kein Guru hob sich ab, um eine Gefolgschaft abzusegnen, keine Hierarchie war gefragt. Entsprechend war die einzige Verkündung dieser Gegenbewegung ein Non-Manifest. Es entsprang der Feder Yvonne Rainers, einer der handvoll Experimentierlustigen der Judson Church, einer ehemaligen Kirche in New York.
Ein anderer Experimentator des dortigen Körper-Bewegung-Labors war Steve Paxton, der vor allem auf das Zusammenspiel der organischen Elemente setzte. Welche Kräfte wirken im Kontakt aufeinander und wie explosiv lässt sich Dynamik entfachen? Die Erkenntnis floss dann in seine später sogenannte Contact Improvisation ein (vgl. Ensuite Nr. 66/67).
Zen ruhte über alles
Ob in meditativen Eigenkörpererfahrungen oder in Gefühls- und Bewegungsexplosionen, man liess erst einmal geschehen. « Release! » war das Motto, aber noch kein Begriff. Die Gemeinschaft war offen, weltoffen und durchlässig. Asiatischer Kampfsport (über Steve Paxton) war genauso willkommen wie somatische Praktiken einer Alexander-Technik. Der Holländer .. Alexander, als erkrankter Sänger, war ein Vorreiter ganzheitlich-heilsamer Körperkultur. Wie viele noch heute erfahren können, geht sein Verfahren körperlichen Spannungen auf die Spur. Frederick Alexander mit den fast lahmgelegten Stimmbändern war der erste, der an der Technik genesen konnte.
Während die Leistungsgesellschaft, samt Wirtschaftswunder, sich Infarkte erarbeitete und der westliche Segen anderen aufoktroyiert werden sollte (Vietnam) blühte der unambitiöse Tanz der Hippie-Zeit. Er riss die Grenzen zum Nicht-Tanz nieder, und erweiterte den Kreis der so Beglückten. Aussen vor blieben – wohl freiwillig – die zielstrebig Ehrgeizigen « mit aufgeplustertem Brustkorb». Trisha Brown, Teilnehmerin der ersten Stunde, berichtete in den 70ern[1], sie wäre von Anfang an gegen diese « puffed out ribcage » gewesen. Ihr schwebte vielmehr die natürliche instinktiv koordinierte Bewegung vor Augen, die ‘organische’ eben. Trainierte Tänzer hätten diese verlernt. Statt sorgsam aus einer Elite zu rekrutieren, tanzten ihr wohl die - mit LSD ohnehin enthemmten – jungen Leute geradewegs in die Arme.
Und was übten sie? Sich fallen zu lassen ohne sich weh zu tun beispielsweise. Steve Paxton, der dies aus asiatischen Sportarten kennt, berichtet, wie der damalige Zuschauer sich vorerst nicht abfinden konnte, im Tanz einen Handstand oder einen beherrscht abrollenden Fall zu betrachten.[2] Sie woben Alltagsbewegungen ein, auch das Gehen (daher ihr Spitzname Pedestrian) und verwischten gerne Konturen : wenn Paxton in seinem Solo Transit Bewegungsabfolgen mit markierender (nur andeutender) Qualität vorführte, war die Lesbarkeit samt nötiger Schärfe dahin. Zumal die Dynamik in einem Diminuendo entglitt.
Slow-Down, eine damalige Entdeckung?
Energiesparen, Überspannung abbauen war durchaus ihre Idee, auch ohne grünem Anstrich. Es beschleicht uns die Frage: entsteht damit nicht ein schlaffer Low-Energie-Brei? Die Verfechter wehren sich: Release sei nicht gegen den Einsatz von Spannung, sondern gegen deren Vereinnahmung. Gegen verinnerlichte Gewohnheiten wie die typische Balletthaltung, das beständige Hochziehen beispielsweise. Lasse man erst einmal zu, das eigene Gewicht zu spüren, dann greife auch der Schwung, und die Nutzung des Momentums bringe Abwechslung in die Dynamik. (Das Momentum ist der Umkehrpunkt eines Schwungs, wie bei einer anrollenden Kugel, die auf dem Hügel fast zum Stillstand kommt, bevor sie abwärts ihre Bahn nimmt.) Und das auf verschiedene "Etagen" verteilt, von der Luft bis zum Boden, ja vor allem dem Boden. Auf dem hinzugewonnenen Terrain, seit Martha Graham und dem Break-Dance zwar kein Neuland, Release-Tänzer fühlen sich da heimisch. Wieviele Spiralen lassen sich da nicht kreieren, wie oft sich nicht hoch- oder runterschrauben?
Innen- statt Aussenansicht
Wenn nicht Körperlinien und Posen die Vorgaben sind, dann wohl auch nicht geometrische Abbilder. "Die Release- wie auch Alexander-Technik hat weder geometrische Repräsentation des eigenen Körpers noch mechanische. Man sucht nach einem neuen leiblichen Selbstverständnis, eine neue Phänomenologie. Ich sage oft: 'Fühlt, wie beim Tanzen sich das Fleisch windet oder was unser grösstes Organ, die Haut, uns vermittelt!' ", verrät uns Michou Swennen. Sie unterrichtete im Tessiner Sommerkurs unter dem Label "Zeitgenössischer Tanz".[3] Anna Halprin sei durchaus ein Ahne der Release-Technik, findet sie. Gemeint ist die Amerikanerin, welche die Doris Humphrey & Charles Weidman Company (dessen Solist José Limòn wurde) verliess und ihren eigenen Weg an der Westküste ging, vielmehr ertanzte. Anna Halprin war experimentell wie die Postmoderne der erwähnten Judson-Church-Gruppe. Betanzte aber keine Wolkenkratzer, sondern Strand, Äcker und Wald. Sie soll sinngemäss gesagt haben: "Es ist mir unverständlich, wie verlangt werden könne, den zentralen Teil des Körpers, das Becken, beim Tanzen still zu halten."[4] Eine solch rigide Aufgabenteilung des Körpers lag ihr fern. Ihr Befreiungsfeldzug ein halbes Jahrhundert nach Isadora Duncan war leise und friedlich, auch wenn Grössen wie Merce Cunningham bei ihren Workshops unter freiem Himmel auftauchten. In ihrem eben erschienen biographischen Film Breath Made Visible spricht niemand von Release-Technik. Die Vorreiter hatten weder Flagge noch Banner. Etikettierungen und Kategorisierungen sind das Steckenpferd der Nachwelt. Nur einmal fällt das Wort release, als sie nämlich 1975 todkrank zum Tanz als Therapie griff: "I had to release my destructive power" ('Ich musste meine zerstörerischen Kräfte freisetzen'). Sie war überzeugt, sich so der Krankheit zu stellen: das Unbewusste konnte beim Tanzen freiwerden. Vielleicht wurde mit dem Release diese Kunstart aus der Vorherrschaft des positivistisch messenden oder formalen Zugriffs befreit? Vergessen wir nicht, das New York City Ballet triumphierte ununterbrochen mit der Ästhetik George Balanchines. Wie Anna Halprin wollten manche eher den im Tanz beteiligten Kräften nachspüren. Und diese seien laut Susan Langers Philosophie der Kunst[5], vitale Kräfte, welche vor allem der Tanz uns vorführt. Und die anerkannte Symboltheoretikerin meinte das gar nicht mystisch.
Spätere Entwicklung
Nach ein-zwei Jahrzehnten Experimentierens und New Yorker Non-Dance stellte sich die amerikanische Postmoderne der Herausforderung technischer Versiertheit. Die Fachwelt feierte als wichtigste Entwicklung des Tanzes der 80er die Rückkehr zur Virtuosität. [6]
Nicht nur nahmen die Tänzer vermehrt wieder klassischen Unterricht, sie « bedienten sich vorhandener Stile und Techniken wie im Supermarkt ». Das ist durchaus im Sinne der Postmoderne.
Zeitversetzt in Europa
Die Wurzeln der Release-Technik sind weit verzweigt. Die Release-Lehrerin mit Limòn-Hintergrund Michou Swennen erwarb ihre Kenntnisse unter dem Label Mouvement Fonctionel, einer Mischung aus Alexander-Technik und Rosalia Chladek, meint sie. Sie gibt sie weiter an berühmte Companien wie die von Carolyn Carlson, Gallotta und Anne Teresa de Keesmaeker. Letztere wiederum hat ihre Kenntnisse aus New York. Als Absolventin der Mudra-Schule von Béjart sog Anne Teresa de Keesmaeker 1982 die amerikanische Postmoderne vor Ort auf. Wieder auf heimischem Boden gründete sie die Companie Rosas. Sie schlug ein wie der Blitz. Rosas tanzt Rosas wurde kunstvoll verfilmt und der fliessend-coole Stil wird vielleicht manchen von Ihnen noch im Kopf schwirren. Von dieser Choreographin erzählt Michou Swennen in einem Interview mit Ensuite, wie sie aus der Release-Idee heraus zu Beginn viele Amateure in ihrer belgischen Tanzschule P.A.R.T.S (in Nachfolge der abziehenden Béjart-Schule) einbezogen hatte. Doch das habe sich mittlerweile komplett verändert. Aus dem Interview mit Alain Platel (Ensuite Nr. 80) wissen wir, dass auch er die Virtuosität professioneller Tänzer für sich entdeckt. Wenn nun Tänzer mit purer Release-Technik, in Kursen erworben, zu einem solchen Choreographen stossen, treffen sie auf Probleme. Mark Bruce, derzeit Gastchoreograph für das Bern:Ballett, hat beispielsweise bei Rosas von Anne Teresa de Keesmaeker getanzt, doch er meint: "Loslassen (=Release) könne man nur, wenn man vorher etwas erarbeitet habe. Nur-Release-Tänzer vermögen meinen zusammengesetzten Bewegungsabläufen beim Vortanzen gar nicht erst folgen."
Von den unvermeidlichen Cross-Overs profitiert natürlich auch das Ballett. Sein Bewegungsweltbild ist immer weniger geometrisch und aristokratisch ausgerichtet. Manche Lehrer schwärmen: "Wenn Du die Spannung aus dem Nacken nimmst, kannst du dich plötzlich schneller bewegen!"
Identität
In Amerika, wo der Tanz schon früh in universitären Einrichtungen vermittelt wurde - es gab da ein halbes Jahrhundert vor Europa Tanzforschung -, tüfftelt man an der Identität der Release-Technik. Man merkt: viele verwenden zwar in Mischformen deren Prinzipien, sind aber keine Bekenner.[7]
Eine wichtige Frage treibt sie um: ist die Release-Technik stilprägend oder verträgt sie sich mit anderen Stilen? Mit jedem? Haben die Mischformen etwas Erfahrbares gemeinsam? Die Technik sei durchaus mit verschiedenen Stilen kombinierbar. Sagen die einen. Die anderen pochen auf eine stilistische Eigenart: selbst bei so unterschiedlichen Choreographen wie Eric Hawkins (Tanzpartner Martha Grahams) und Trisha Brown hätte die Release-Arbeit und Anwendung der Alexander Technik 'die Kanten entschärft'[8].
Damit ist aber nicht in erster Linie die Ausfransung von Linien durch flapsige Füsse, also etwas Geometrisch-Formales, gemeint. Es geht um einen Charakter der Dynamik und da tun die ForscherInnen gut daran, Rudolf von Labans Eukinetik anzuschauen. Anfang des 20. Jahrhunderts inventarisierte nämlich dieser Tanztheoretiker die Bewegungsqualitäten (vgl. Ensuite Nr. 62). Eine Laban-Kennerin an der Ohio-State-University[9] schaute im Inventar nach und meint: Labans Tabelle fehlt das passive Gewicht! /10/ Was das ist? Nicht der erwünschte Gewichtsschwund etwa, sondern ein Erspüren der Wirkung der Schwerkraft. Kein Dagegenhalten oder Herumtragen der Eigenmasse, was ein 'aktives Gewicht' wäre. Nun, die neue Bewegungsqualität hielt Einzug ins System. Die Eigenart des Release ist nun zu verorten, nämlich innerhalb des Zusammenspiels von Gewichtsverwendung, Tonus und Fluss mit den Koordinaten Raum(qualität) und Zeit(qualität): Der Release-'Stil' sei im Punkto Tonus mit seinem schwachen Muskeltonus und im Punkto Gewicht auf der negativen Seite der Skala - Dem Ephemeren ist ein Platz geschaffen...


[1] Brown and Dunn 1979, S. 169 zit. n. The Body Eclectic S. 160
[2] Banes 1993, S. 121 zit. n. The Body eclectic S. 159
[3] Der Tanzworkshop findet jährlich im August in Ascona statt (www.dancepromotion.ch)
[4] Dies gilt in erster Linie beim Ballett, aber mit Einschränkungen (z.B. der Contract) auch im modernen Tanz.
[5] Langer, S. K. (1953). Feeling and Form: a Theory of Art Developed from "Philosophy in a New Key" . New York
[6] Copeland, R. (1986). "The Objective Temperament: Post-Modern Dance and the Rediscovery of Ballet." Dance Theatre Journal 4(3).
[7] The Body Eclectic, S. 157
[8] The Body eclectic S. 113
[9] Die Mouvement-Analyse-Dozentin Melanie Banes
/10/ Die Verantwortliche des deutschen Laban-Ausbildungszentrums EUROLAB, Antja Kennedy, meint dagegen, daß in den USA schon seit 1982 das passive weight unterrichtet worden sei.

Montag, 11. Januar 2010

Zum Tanz



Zwei Regionen setzen auf Tanz mit Zusatz
1. Freiburgs Theater
Im Jahr 2012 wird Freiburgs Theater im Herzen der Stadt pulsieren. Seit 2005 konnten die Bürger sich – nach 30 Jahren Dürre – schon einmal an einen ernsthaften Spielplan der neuen Spielstätten Espace Nuithonie gewöhnen. Der Intendant, bald auch des künftigen Gastspielhauses, konnte mit bis zu hundert Vorstellungen jährlich seinen Anspruch an Qualität in der Vielfalt unter Beweis stellen. Die Auslastung ist beneidenswert : seit anbeginn um die 90 %. Ist das nur der Nachholbedarf der Einheimischen des schwarz-weiss geflaggten Kantons ? Wohl nicht, denn der Appetit hält an.
Nur 150 m vom Bahnhof entfernt wird das neue Theater erbaut. An exponierter Stelle, laut Plan mit Blick auf die gerade verschneiten Voralpen. Es wird auch für das Umland interessant, da gut erreichbar. Wie günstig, dass das Projekt der Agglomeration[1] in diesen Tagen zu wirken beginnt. Damit werden die Kräfte für eine Kultur von überregionaler Bedeutung gebündelt, der Hunger nach dieser gemeinsam geschürt und
gestillt. Sie wird auch bezahlbarer, würde man denken, denn wo viele Gemeinden zusammenfassen, können grössere Projekte entstehen. Doch dem ist nicht so. Es sind weiterhin die fünf (mehrheitlich frankophonen) Kerngemeinden, die mit dem örtlichen Casino das Theater finanziell tragen. Vielleicht braucht es noch Zeit, das gesteckte Ziel zu erfüllen und das Umland in die Pflicht zu nehmen. Die Einwohner der unterstützenden Gemeinden profitieren jedenfalls im Gegenzug von billigeren Abos.
Das Ziel ist hochgesteckt : das Theater soll mit dem Programm auch auf nationaler Ebene Bedeutung erlangen. Der New Yorker Graham-Erbe Pascal Rioult mit seinem berauschenden Ravel Project, die neoklassische Truppe des begehrten Franzosen Thierry Malandin aus Biarritz oder die frech-dynamische Hip-Hop-Gruppe Accrorap waren die Reisser. Sie hatten durchaus Lausanne und Bern als Publikum im Visier. Es ist nicht einzig der Kritiker aus Genf (Le Temps), der sich dafür auf den Weg macht.
« Ja, unsere verkehrstechnisch günstige Lage und unsere Kenntnis der deutschschweizer wie welscher Kultur prädestiniert uns, eine Brücke über die Kunst zu bieten. Wir werden nun verstärkt das deutschsprachige Publikum suchen », meint der Intendant Thierry Loup gegenüber Ensuite. « Der Tanz ist hierbei ideal und auch überaus gefragt. Wir werden ihn in unserem Programm ausbauen.»
Dass dem Intendanten bei der Stückauswahl eine gewisse Eklektik zueigen ist, möchte er gar nicht bestreiten. « Ich schätze sowohl leichte und heitere Stücke wie auch tiefschürfende. Auch stilistisch habe ich keine Bevorzugung oder Vorurteile. Ich geniesse immens den sich auf den Bühnen ausbreitenden Break-dance wie auch die Neoklassik. Mein einziges Kriterium ist Qualität. »
Doch nicht nur. Denn es muss für Thierry Loup in den Stücken auch wirklich getanzt werden. Das ist mittlerweile keine Selbstverständlichkeit. « Ich muss mit allen Sinnen, Gefühlen und dem Herz angesprochen werden, damit es mich überzeugt», sagt ausgerechnet der Kopfmensch, der ehemalige Mathematik- und Physik-Studiosus.
Natürlich gibt es auch den Auftrag, die lokale Companien zu unterstützen. Deren gibt es drei : die Zürich-Freiburger Companie Drift, DaMotus und die neugegründete Companie Karine Jost. Sie sind so verschieden, wie die Tanzszene selbst, schwärmt der Intendant. Die ersten beiden touren bereits weltweit.
Schon seit Jahren lobt die Companie Drift die Freiburger Probebedingungen : « vier-fünf Wochen Bühnenproben bekommt man sonst nirgends ». Das Iglu, die Musikinstrumente und das Pagenkostüm an Ort und Stelle auf der Bühne liegen lassen zu können (und premierengerecht) dort wieder vorzufinden, ist auch eine atmosphärische Verführung für jeden Künstler.
Worte zum Tanz. Und wie geht es der Kunstvermittlung im zweisprachigen Raum[2]? Merci, bien. Danke der Nachfrage. Sie läuft reibungslos, comme il faut. Bilinguismus ist eines der wenigen Ziele, das laut einer Auswertung[3] des Espace Nuithonie noch nicht erreicht ist. Wenn nun der Tanz als mobiler Brückenschlag in jede Richtung sich erstrecken soll, wie seine verbale Vermittlung ? « Das ist ein heikler Punkt. Das Publikum hat schon von sich aus Berührungsangst. Dann noch der empfundene Druck, bei Werksbesprechungen Fragen stellen zu müssen. Über Tanz sich zu artikulieren fällt besonders schwer », meint der Intendant im Schafspelz. Man möchte hinzufügen : besonders, wenn man sie in einer eleganten Sprache wie dem Französisch zu formulieren hat… Deshalb soll demnächst das Publikumsgespräch zweisprachig verlaufen.[4] Doch auch inhaltlich gilt es, dem Zuschauer Mittel an die Hand zu geben, seine Eindrücke anschaulich zu schildern. So wird er Zutrauen fassen, um Bewegung in Worte zu kleiden. Wenn er erkannte, was konkret am Stück seine Eindrücke verantwortet und das gar als Beispiel vorbrächte, wäre schon fast alles gewonnen. Eine Diskussion wäre im Gange. Kurze Einblicke vom Moderator, wie der Künstler zur Idee, wie er zu seinem Stil fand, sind abrundend oft unterhaltsame Informationen. Wenn dann noch der innere Blick der Interpreten sich auftut, weil Tänzer anwesend sind, wie beim Publikumsgespräch nach der Vorstellung des Genfer Balletts kürzlich in Freiburg, kann sich alles umstülpen : Der Eindruck eines Zuschauers, dass auf Johann Sebastian Bachs Choräle die Tänzer in Adonis Foniadakis Stück Selon Désir sich wohl an der Miami-Beach-Party verausgabten, der schwingenden Röcke (für Mann wie Frau) und der nackten Beine wegen, wandelte sich nach den Zeugnissen der Tänzer. Diese gestanden, dass die technische Herausforderung sie so erschöpfte, dass das Stück nur zu meistern sei, indem sie die Kraft der Musik absorbierten. « Das war wie ein Trip, wir tanzten wie im Trance », meinten beide mit leuchtenden Augen. Wenn dann noch der Hinweis fällt auf die unentwegt geschwenkten Köpfe, ahnt man biologische Zusammenhänge: kämen vielleicht auch organische Gründe für den Trance in Frage ?
2. Tanznetz Genf

Genf hat wohl das dichteste Tanznetz der Schweiz. Seine Spannbreite reicht vom Ballett (die Qualität hielt sich seit Balanchines Leitung in Genf) bis hin zum experimentierfreudigen zeitgenössischen Tanz. Ein agiler Tanzverband (Association de la Dance Contemporaine, kurz ADC) beflügelt die Verbreitung des Angebots, bietet eine anspruchsvolle Zweimonatszeitschrift und organisiert Kurse, aber auch Busfahrten zu Tanzveranstaltungen ins Nachbarland. Über die Hälfte der Projekte zur Sensibilisierung der schweizer Bevölkerung für den Tanz kommt aus Genf[5].
Das Festival “Constellation Cunningham” war ein genialer Schachzug des ADC. In Zusammenarbeit mit der Fondation Flux verpflichtete der Verband die Merce Cunningham Dance Company (MCDC) noch zu Lebzeiten des Meisters zu einem Gastspiel. Nicht nur künstlerisch war dies ein Glücksgriff (siehe die Kritik ). Auch (kultur)marktstrategisch: Das Verscheiden des Choreographen im Sommer machte die Companie begehrter denn je: nur zwei Jahre noch soll sie auf Wunsch des Meisters fortbestehen. Die Metropolen reissen sich wohl um die Termine der anstehenden Abschiedstournee. Doch in der Schweiz prangte bereits der verschmitzt lächelnde Krauskopf von Merce werbend auf den Strassen. So auch auf den riesigen Leuchtflächen des Berner Bahnhofs. Die nationale, gar internationale Strahlkraft liess sich aber noch steigern. Wie? Mit Rahmenveranstaltungen zum Tanz. Künstlerisch aufbereitete Dokumentarfilme[6] in Anwesenheit des Filmemachers, Charles Atlas, waren zu sehen, gezeichnete Tierstudien des Choreographen ausgestellt, ebenso Fotos. Es gab Profitraining des langjährigen Merce-Assistenten aus New York, Probenbesuch für Studierende (so kam die Berner Tanzwissenschaft angereist), Meisterkurse in der Cunningham-Technik im Studio des Genfer Ballet Junior und, und und.. Dazu kreierten bei Merce geschulte Choreographen ihm eine Hommage. Einer davon ist der Genfer Foofwa d’Immobilité, dessen Stück Musings wohl bald schweizweit zu sehen sein wird. Ein seltenes Leckerbissen war der Runde Tisch, an dem man Zeuge von Geschichtsentwicklung wurde. Tänzer der ersten Stunde des MCDC, die mit John Cage und Robert Rauschenberg in den 50ern noch täglich Zwiebel schälten, sassen denen der (über)nächsten Generation gegenüber. Einander konfrontiert wurde bald klar, wie die technische Leistung sich über die Jahre gesteigert hatte “in den 90ern war man bei Merce nach drei Jahren verbraucht”. Fragen wie “Ging die auflockernde Release-Technik der 90er an Merce unbemerkt vorüber?” (Antwort: Ja!), kamen offensichtlich aus dem Munde von Profis. Die Repetitionsleiterin des Pariser Conservatoriums z.B bemerkte, “die anstrengende Cunningham-Technik erlernt sich nicht in Frankreich.” Die frühen Gastspiele von Merce konsumierte man nur durchs Auge. “Man sagt in Amerika, die Franzosen trainieren nicht, sie glauben bloss, dass sie trainieren”, kam die Replik. Die englisch-französischsprachige Veranstaltung war spannend, zeigt aber einmal mehr, wohin jenseits des Röstigrabens der Blick gewandt ist: nach Frankreich.
Das Wort zum Tanz als Event
Den recht analytischen Gesprächsrunden Freiburgs und Genfs steht in Berlin ein neues Modell gegenüber. Das zunehmend zur Performance- und Eventkultur verkommende Festival Tanz im August übernahm vor zwei Jahren eine Idee einer offenen Internet-Plattform[7]. Das Podiumsgespräch im Anschluss an die Vorstellung soll demanch zum virtuellen Spiel werden, zum “Impersonation Game”. Die Rollen werden vertauscht. Es gibt zwar Fachleute, aber sie stellen keine Fragen. Es gibt auch beteiligte Tänzer, aber sie erteilen keine Auskunft. Es sind sie, die fragen. Und die mehrheitlich tanzfremde Kunstkenner liefern die Antwort. Zu einem Stück und Stil, das sie nicht länger kennen als das angereiste Publikum. Sie überspielen virtuos und mit feuilletonistischen Floskeln das Manko. Der Zuschauer ist erst beeindruckt, dann verunsichert – und kehrt schliesslich enttäuscht heim.[8] Ein mulmiges Gefühl überfällt uns: unterliegen wir etwa immer der Illusion eines sich kundig gebenden Fachwelt?


[1] http://www.agglo-fr.ch/domaines-dactivites/promotion-culturelle.html
[2] Laut dem kantonalen Amt für Statistik sprechen im Jahre 2000 29,2 % als Hauptsprache deutsch, 63,2 % französisch. http://appl.fr.ch/stat_statonline/portrait/etape2.asp?Contexte=2&Domaine=350&Liste=350
[4] Die Freiburger Nachrichten mobilisierten ihre Leser am 11. Dez.: « Dieses Gespräch verläuft ausdrücklich zweisprachig und versteht sich als Testlauf für eventuelle weitere Veranstaltungen dieser Art ».
[5] 30 Projekte von 56 insgesamt stammen aus Genf laut dem Katalog zu Kulturvermittlung im Bereich Tanz 2008.
[6] Merce Cunningham: A Lifetime of Dance (2000), gewann den Bessie Award und den DanceScreen-Preis 2000, Merce by Merce by Paik (1976), Channel/Inserts (1982)
[7] http://www.everybodystoolbox.net
[8] Die Autorin befragte am 23. Aug. 2009 nach dem Publikumsgespräch zur Vorstellung Accords mit Thomas Hauerts Companie Zoo einige Zuschauer, Tänzer und die ‘Kulturfachleute’ (einen Kulturmanager- und Produzent, einen Musiker und eine Tanztheoretikerin).

Freitag, 6. November 2009

3 Schweizer Choreographen

erschienen in Ensuite Nr. 83 S. 20-22:

Drei in der Schweiz tätige Choreographen bereiten neue Tanzabende für uns vor. Ensuite sprach mit ihnen.

1. Pablo Ventura Dance Company

2046 ist das letzte Jahr der garantierten Selbstverwaltung Hong Kongs. 2046 ist auch der Name einer fiktiven Stadt, zu der man eine Raum-Zeit-Reise durchs All unternehmen kann – um (ausgerechnet !) seiner eigenen Vergangenheit zu begegnen. Sie gab dem Film des Chinesen Wong Kar-Wai den Namen, der eine Auszeichnung beim Europäischen Filmpreis 2004 erhielt. In einnehmenden atmosphärischen Bildern malt er darin eine kurze Science-Fiction-Episode, die Rückreise aus der zeitlosen Stadt. Die Episode heisst entsprechend « 2047» und ist ein Schlüssel zur (Film-)Wirklichkeit, zum Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Genau diese filmische Schlüsselepisode, die Raum-Zeit-Reise, nimmt der Choreograph Pablo Ventura als Unterlage für sein neues Stück 2047.

Das Tanzstück ist die Abkehr von seinen Artificial Intelligence Labor-Forschungsarbeit, das er an der Universität Zürich betrieb. Die wissenschaftliche Kollaboration mit Daniel Bisig u.a. sollte einen tanzenden Skelett-Roboter generieren. Dem Tanz wäre damit aber nicht viel gewonnen.

Er hatte bereits eine tanzende Frühversion dieser Maschine im Schlussteil seiner Trilogie De Humani Corporis Fabrica seinen Tänzern (triumphierend ?) gegenübergestellt. Als er im Anschluss sich rein technischen Installationen auf Cyber-Tagungen z.B. in Singapur zuwandte, schien er der Tanzwelt abhanden zu kommen. Die kubische Bewegungsskulptur, die live auf Menschen und Reize reagierte war mehr Spektakel, denn Kunst.

Welcome Back to (dance) reality ! Nun wendet er sich also vom Roboter ab und formt wieder Gestalten aus Fleisch und Blut. Ganz wie der Protagonist der Filmepisode 2047, der am Ende der Raum-Zeit-Reise erkannte, dass er sich von seiner Liebe zu einem Androiden lossagen muss…

« ich habe die letzten 10 Jahre viel gelernt bei der Arbeit mit dem Computerprogramm LifeForms ». Dieses Programm entwickelte man mit Merce Cunningham für dessen zufallsgenerierte Posenpuzzle-Technik. Bei Pablo Ventura werden aber nicht wie beim berühmten Meister wiedererkennbare (Ballett-) Versatzstücke durchmischt, sondern die Knochen selbst, scheint es. Schaut man sich in der Library um, der Posensammlung des Softwareprogramms, dünkt man sich im Gruselkabinett. Gelenke türmen sich übereinander, begraben Figur samt Kopf. Eine Sequenz , d.h. zehn bis fünfzehn solcher Monströsitäten, nennt sich « Phrase » und wird den Tänzern wie eine Partitur ausgeteilt. Diese studieren die Abfolge und ihre sekundenbruchteilgenaue Dauer. Doch wen wundert’s, dass sie nicht wissen, wie sie in die Posen hinein- und wieder hinausfinden ? Dafür wird der Hexenmeister gerufen. « Besonders wenn es zum Boden geht, muss ich her. Das Programm LifeForms sagt nichts über Gravität aus. Wie man am handlichsten mit ihr umgeht, zeige dann ich. »

Ich denke wie LifeForms

Wochenlang wurden die Phrasen, die die Choreographic Machine herausspuckte, einverleibt. Zum Glück mit einem gehörigen Anteil an repetitiven Posen. Aneinandergereiht sind sie einfach ein Stand-still, eine Verschnaufpause. « Wir haben 30 Minuten an individuellen Phrasen verarbeitet. Das halbe Stück steht. Diese Woche gab ich den Befehl « cut and paste » den Tänzern. In früheren Stücken machte ich diese Arbeit am Computer. Mittlerweile denke ich in seiner Begrifflichkeit und die Tänzer verinnerlichen sie. Sie können vom Fleck weg die Phrase A der Beine mit der Phrase B der Arme verbinden. » Was herauskommt, ist überraschend. Keine Spur von einer intentionalen choreographischen Handschrift. Oder doch ?

« Welche Qualität die Verbindungswege der Posen haben, bestimme schon ich. Und meine Arbeit ist sehr contrapunktisch. Während die Frauen Androiden sind, mit einem unfokussierten verlorenen Blick, ist der Mann als einziges menschliches Wesen kommunikativ. Und in der Form : Während die einen sich z

u Boden schrauben, darf ein anderer durchaus in die Höhe sprengen. »

Wenn demnächst noch der Befehl erfolgt, kopiere die Beinarbeit des Nächsten zu deiner linken und die der Arme zu deiner Rechten, (Ausdruck von genetischem Transfer ?) sind wir berufen, Mensch und Android zu entflechten und zu dechiffrieren. Auf, auf zum Decodieren !

Zur Tanzlandschaft Zürich

K.S. Mit sechs virtuosen Tänzern und technologisch anspruchsvollster Ausstattung – Sie arbeiten mit dem Medienkünstler Christian Ziegler zusammen, der Forsythes berühmte CD- Improvisation Technologie herausbrachte - : Wie schätzt Du die derzeitige Lage für anspruchsvollen Tanz in der Schweiz ein ?

V. : Früher musste man fünf Monate im voraus buchen, um einen Proberaum zu ergattern. Nun scheint es sehr leer hier. Dabei stürzt man sich als Tänzer im Herbst in die Arbeit. Ob das von einer Krise herrührt, weiss ich nicht. Ich habe diesmal nur Unterstützung von der Stadt Zürich. Was ich Herrn Ziegler, (Komponist und renommierter Videokünstler) zahlen kann, ist eine symbolische Summe, für die ich mich schäme. Was die Förderer gutheissen, scheinen Kleinprojekte zu sein. Ich visiere aber auch grosse Theater zum Gastieren an. Dass die grösste Stadt der Schweiz sich nicht leisten kann, eine mittelgrosse Companie, ein überwiegend schweizer Team zu unterstützen, ist entmutigend.

K.S. : Dann solltest Du mit Cathy Sharp Rücksprache halten, sie scheint das kulturpolitisch fortsc

hrittlichste Baselland seit 18 Jahren hinter sich zu haben.

V : Sie kann von Glück sprechen, dort ihr Standbein zu haben.

K.S : Und was hälst Du von der Präsenz des Tanzes in den Medien ?

V : Die Ankündigung von Gastcompanien funktioniert hier sehr gut, die Vorbesprechung ihrer Stücke. Nachbesprechungen, die Kritiken nehmen ab, scheint mir. Die lokalen Companien, wenn sie denn nicht Teil eines Trends sind, haben es schwer, bekannt zu werden. Mir fehlt seit zehn Jahren die Möglichkeit, mein Publikum heranzuziehen. Meines kommt – ironischerweise - nicht aus der zeitgenössischen Tanzszene. Meine Stücke besuchen ein breitinteressiertes Tanzpublikum und Liebhaber von Architektur und Videokunst.

2. Cathy Sharp’s Company besinnt sich

Cathy Sharp, Ihre Company ist 18 Jahre alt. Sie ist gut etabliert und erfolgreich. Warum führen Sie im Titel Ihres neuen Tanzabends « The Urgency Of Now » den Zusatz « pure dance » ?

Ich wollte das nicht an die grosse Glocke hängen..

ensuite : .. Sie setzen den Zusatz auch in Klammer..

C : ja, eben. Mit diesem Programm gelingt es uns, uns wieder auf das ursprüngliche Profil und die künstlerischen Werte der CSDG zu besinnen. Wir haben nun mal keine theatralische und keine performative Ausrichtung. Auch wenn - wie das letzte Stück mit der experimentellen Musikgruppe Stimmhorn zeigt - wir da ganz offen sind. Also : wir bieten puren Tanz.

Der kommende Tanzabend vereint Werke, die choreographisch sehr dicht sind und Gültigkeit besitzen ohne jeden Schnickschnack. Sie wurden vor zehn Jahren für uns geschaffen. Und sie sind es wert, zu überdauern.

Spannende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

Als die beiden Choreographen der Stücke, Nicola Fonte und Philippe Blanchard , mir damals empfohlen wurden, waren sie sehr junge aufstrebende Talente. Unsere Companie dagegen war bereits reif, auch dem Alter nach. Jetzt verhält es sich umgekehrt. Die derzeitigen Tänzer sind so jung wie Fonte und Blanchard es damals waren -, dynamisch und ausgesprochen bewegungshungrig. Es ist ein spannender Prozess zu sehen, wie gereifte Choreographen sich ihren Frühwerken stellen.

K : Ein solches Bewusstsein für Repertoirpflege ist selten im modernen Tanz.

C : Das ist richtig. Der junge Nicola Fonte kam damals gerade von der Nationaltanzgruppe in Madrid (Compania Nacional de Danza) unter der Leitung des begehrten Nacho Duato (einem ehemaligen Jiri Kylian-Assisten). Er mag dort für Repertoirpflege einen Sinn entwickelt haben. Ich tanzte mit Heinz Spoerli in Montreal. Auch wenn er klassischer ist als ich, den Wert eines Repertoires, der Wiederbelebung wichtiger Werke, teilen wir. Das Auffrischen aus eigener Hand aus zeitlicher Distanz lässt Relevantes erst richtig hervorkehren.

K : Jiri Kylians Stil ist, zeitgenössische, aber auch ethnologische Elemente für (klassisch) voll ausgebildete Tänzer fruchtbar zu machen, oder umgekehrt ausgedrückt, das Spektrum zeitgenössischen Tanzes durch anspruchsvolle Technik zu dehnen. So etwas schaffte noch Mats Ek. Der Stil, der auf der Verschmelzung auf hohem Niveau beruht, hat nie eine so breite populäre Verbreitung gefunden wie die experimentelle Performance-Art z.B. Liegt das etwa an den Anforderungen ?

C : Ja, meine Tänzer müssen sowohl im klassischen Tanz bestehen können, als auch im modernen und zeitgenössischen Tanz zu Hause sein. Sie befinden sich an der Schnittstelle beider Stilrichtungen. Und das schmälert sehr die Auswahl.

K : Dafür bietest Du im Gegensatz zur freien Szene und den dort üblichen Projektverträgen Saisonverträge an, einen weitsichtigen Spielplan und mit Ihren beruflichen guten Übersee-Beziehungen jährlich monatelange Tourneemöglichkeit.

C : Ja, meine Tänzer danken es mir mit Treue. Ich wollte von Anbeginn eine Companie gründen, die ich mit langem Atem heranbilden konnte. 30 Vorstellungen und zwei Produktionen jährlich (je eines für Baselland und Baselstadt) fordert und fördert sie.

K : Sie touren weniger in der Schweiz. Im Rahmen von Steps waren sie zweimal dabei. Passen Sie nicht in den Trend der übrigen Festivals ?

C : Wenn die Festivals einem Trend folgen müssen, dann tut es mir leid. Sie profilieren sich untereinander gar nicht so sehr. Man hat den Eindruck, manche Companien touren von Festival zu Festival.

K : Was bietet in Ihren Augen derzeit die Medienlandschaft für den Tanz?

C : Ich bin ganz einverstanden mit Heinz Spoerlis Anaylse, dass weniger Tanzkritiker engagiert sind. Und dass sie eine Ausbildung benötigen. Auch wir beginnen nicht gleich als Primaballerina. Und dazu gehört die Mobilität. Wenn die Zeitungen das nicht leisten,

müsste man fast erwägen, ob nicht der Tanzdachverband diesen Beruf und seine Mobilität unterstützt. Bei uns kommen nur Kritiker aus Basel und Freiburg in Breisgau vorbei. Umgekehrt weiss ich auch zuwenig von der Westschweiz. Man bleibt unter sich. Der Tanz und seine Arbeiter in den Studios brauchen aber Feed-Back und wollen ihre Arbeit unters Volk getragen wissen. Da reichen unsere Poster und Flyer nicht. Auch das Verschwinden der Fachzeitschrift von Gerhard Brunner, ist einVerlust : sie hinterlässt eine Leere in der Fachpresse. Die Tanzwelt wartet mit Spannung, was sie füllen mag.

3. Femme Fatale in Maud Liardons Zelda Zonk

Marylin Monroe hat mit 36 Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach sich das Leben genommen. Ein berufliches Leben in Glamour kollidierte mit einem unerfüllten Privatleben. Ihr eigenes Image, mit dem sie reüssierte, wurde ihr zum Verhängnis. Was in ihrem Innersten abging und sie nie wirklich ausdrücken konnte, interessiert nun die gebürtige Genferin Maud Liardon.

Auch sie ist 36 Jahre und hat eine erfolgreiche (Tanz-)Karriere hinter sich. Und auch ihr Privatleben blieb dabei eher finster. Diese Ähnlichkeit, ganz unter Beachtung der unterschiedlichen Proportionen, wie sie gesteht, berühre sie. Das Image, das man von Tanzinterpreten hat, suchte sie bereits in ihrem ersten Stück Arnica9CH (my life as a dancer) zu untergraben. Schmerzpillen und banale Gedanken begleiten dort visuell und akustisch ein Solo, das den Fingerabdruck von Giganten wie William Forsythe und Trisha Brown zu tragen scheint (deren Stücke sie mehrfach tanzte). Im neuen Stück geht Maud Liardon Marylin Monroes Zerbrechlichkeit hinter der Fassade auf die Spur. Als Zelda Zonk, ein Pseudonym, das sich Marylin bei ihrem Aufbruch nach New York zugelegt hatte, kontrastiert sie die leichte Gangart der Musicalästhetik der 50er mit den möglichen Gedanken der Depressiven in ihrer letzten Stunde.

Und hat sie bereits ihren eigenen Bewegungsstil ? « In Arnica9CH war das Bewegungsmaterial

eher ein Vorwand, um meine Kommentare und Brechungen anbringen zu können. » Nun, dieser Vorwand war auf höchstem Niveau. Doch auch nun dienen ihre Bewegungsrecherchen anhand von Filmmaterial aus den 50ern eher zur Illustration des Widerspruchs bei Marylin, meint sie. Dabei kann Spannendes herauskommen. Und vielleicht summiert sich all dies einmal zu einem unverwechselbaren Liardon-Stil.

Denkt sie daran, Material auf mehrere zu verteilen und miteinander zu verweben? Denkt sie an andere Tänzer ? « Nein, ich habe noch Angst. Professionnelle Tänzer haben Erwartungen, wie Proben vorankommen

sollten. Ich arbeite derzeit sehr langsam. Das wäre auch ein organisatorischer Druck. Und in dieser Phase, wo ich thematisch sehr intime Inhalte abtaste, bräuchte ich sehr vertraute Tänzer. »

Hat sie für den Start als Choreograph eine gute Piste? « Nur hier in Genf konnte mir der Start gelingen. Die Dichte der Tanzschaffenden- und veranstalter, die sich hier begegnen, ist sehr förderlich. Die Ermutigung, die Subventionen und kostenlose Proberäume, nur hier konnte ich durchstarten. In Paris oder Schweden hätte ich bereits Studios anmieten müssen. »

Hat sie von einer – zwar sehr kurzen – Weiterbildungsmöglichkeit für aufstrebende Choreographen in der Schweiz gehört ? « In Zürich ? Nein. Das wäre aber eine Chance, mich zu entwickeln und neue Bahnen zu eruieren, neue Dyanmiken auszuprobieren. Ich hatte bislang noch nicht die Gelegenheit, an sowas zu denken. Bislang hatte ich auch noch nicht viel mit der Presse zu schaffen. Erst die Auswahl für die Zeitgenössischen Schweizer Tanztage verhalf mir zu Gastspielen und im Anschluss zu den für Subvention und Promotion so begehrten Presseberichten. »

Bis die Rückenprobleme, die die anspruchsvolle Profitänzerin in die Knie zwangen und feste Verträge vereiteln, auch ihre Eine-Frau-Shows verhindern werden, sollte sie ihre Sprache gefunden haben, die andere für sie sprechen werden. Tanzend.