Mittwoch, 12. August 2009

Alain Platel, Foofwa

erschienen in Ensuite Nr. 80 S. 21-23:

Interview mit Alain Platel

Anlässlich der schweizer Uraufführung von Pitié (2009) sprach Ensuite mit dem Choreographen.

Ensuite: Tanzcompanien experimentieren mit Behinderten, integrative Tanzgruppen spriessen weltweit aus dem Boden und Comunity Festivals holen sie auf ihre Bühnen wie unlängst in Bern, Genf und Zürich. Umgekehrt ähneln Werke von VIP-Choreographen wie William Forsythe in ihren Installationen zunehmend elendem Gewürm. Kürzlich mutierte der Hoffnungsträger der Schweizer Tanzszene, Foofwa d'Immobilité, zu einem Fall mit neuro-pathologischen Symptomen der Chore. Was halten Sie von der Entwicklung?

Alain Platel: Ist das ein Trend? Ich kenne nicht Forsythes Entwicklung. Aber ich komme aus einem ganz anderen Eck. Ich bin kein Tänzer-Choreograph und habe die wenigen Tanzkurse, die ich besuchte, vor Ewigkeiten gemacht, wie mir scheint. Für mich ist der Umgang mit dieser Bewegungssprache eine Notwendigkeit. Sie rührt direkt von meinem ursprünglichen Beruf her. Ich war Heilpädagoge und arbeitete jahrelang mit schwerbehinderten Kindern. In den ersten Choreographien, die ich unternahm, hatte ich diese Körpersprache im Hinterkopf, getraute mich aber noch nicht. Seit vier-fünf Jahren setze ich sie ein.

Wenn sich ein Trend abzeichnet, würde mich das nicht beunruhigen. Das gibt es in der Geschichte der Kunst immer wieder, dann folgen Kopien von Kopien...Wichtiger ist es, dass seelenverwandte Künstler über Genre hinweg einander inspirieren. So entdeckten eine belgische Bildhauerin und ich Gemeinsamkeiten in unseren Werken.

Ensuite: Eine Trendwende dagegen scheint sich hinsichtlich der Technik abzuzeichnen. Sie konstatierten das in Belgien. Die Anfänge des zeitgenössischen Tanzes in Flandern, sagten Sie - und meinten damit auch die berühmte Companie Rosas? -, waren amateur-inspiriert. Auch Sie trugen zu dieser Bewegung bei und profitierten von ihrer Offenheit gegenüber tanzfremdem Einfluss. In der jüngsten Produktion

dagegen tauchen die Tänzer mal kurz kopfüber in eine Arabesque (hinterm Rücken hochragendes Spielbein) und drehen auch noch dabei. Entdecken Sie die Virtuosität?

Alain Platel: Ja. Zu Beginn arbeitete ich mit Amateuren. Dann begann ich professionelle Tänzer hinzuzuziehen. Die Konfrontation mit ihnen war sehr fruchtbar. Die Profis staunten über das instinktive natürliche Anpacken von Herausforderungen, die Amateure über den meisterlichen Umgang der Profis damit.

Im Allgemeinen aber zensieren sich die Tänzer in der Tanzszene selbst: "ich habe keine grossen Écartés(seitlich gespreiztes Bein entweder auf einem Standbein oder in der Gretsche) zu machen, denn ich tanze ja in einem rüttel-schüttel-zeitgenössischen Tanz." Als diese Profis aber in meinen Proben in den Pausen lustvoll hervorpreschten und sich an den virtuosen Show-Offs ergötzen, ist mir klar geworden, was für ein Potential da schlummert.

Insofern ich mich mehr und mehr von den sozio-politischen Themen abwende und Reisen ins innere Seelenleben unternehme, erschliesst sich mir mit der Virtuosität ein komplexes Instrumentarium, ein Kompass, eine lesbare Karte, ein Echolot mit Feinstabstimmungen. Mit der meisterlichen Körperbeherrschung sind schlicht mehr Nuancen zu erfassen. Sobald die Tiefe und Komplexität eines Gefühls sondiert ist, wird die Technik sie wie ein Vergrösserungsglas den Zuschauern erlebbar machen. Das ist ein Entdeckungsabenteuer für mich, denn bislang glaubte ich Gefühle eher durch Musik mitteilbar.

Einen Schlüssel zu den Gefühlen boten mir Filmaufnahmen des Psychiaters Arthur Van Gehuchte vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Die Patienten, die sich der Worte nicht bedienen konnten, liess er in der Anstalt durch freie Räume der Anstalt bewegen und filmte sie. Als ich das Material meinen Tänzern zeigte, sahen sie sofort: die Patienten drücken ihre Gefühle über Bewegung aus. Und viele Episoden boten den Tänzern einen Ausgangspunkt beim Erforschen von Ausdruckformen verwandter oder ähnlicher Gefühle. Was ich früher bei der Arbeit in den Anstalten nur ahnte, ist für mich heute gewiss: die Zustände (wie epileptische Anfälle) dieser Patienten rühren von ihrer Hypersensibilität. Sie sind empfänglicher für die wesentlichen Dinge des Lebens.

In England sind Behinderte stark in der Gesellschaft integriert. In den Theatern ist viel Rau

m bei den Zuschauern für sie reserviert. Und sie kommen in meine Vorstellungen zuhauf. Doch einmal, an einer bedeutsamen Stelle raunte ungehalten ein behinderter Zuschauer in die Stille. Wie in einem Bann. Die Aufsicht beförderte ihn hinaus. Das traf mich sehr. Schade, meine Tänzer waren nämlich vom unwillkürlichen Röhren stimuliert. Erst wenn Zuschauer die fremdartigen Bewegungen und Geräusche schätzen lernen, wird Integration erfolgreich sein.

(Meine Besprechung von pitié! in: Randerscheinungen im Tanz)

Interview mit Foofwa d'Immobilié

Inzwischen hat sich das Enfant Terrible der Schweizer Tanzszene auf die Materie gestürzt. Genauer: auf die neurologisch bedingten Symptome Chore. Als Tänzer-Choreographen hat ihn eine ganz andere Motivation zu diesem Experiment getrieben. Nicht ein soziales Anliegen, mit dem man sich künstlerisch auseinandersetzt, wie bei Alain Platel.

Ensuite: Sind auch Sie nun auf den Zug gesprungen, der die Randerscheinungen der Gesellschaft ästhetisch ausschlachtet?

Foofwa: Nein, also Moden in der Kunst interessieren mich gar nicht. Ich experimentiere an so vielen verschiedenen Fronten gleichzeitig, dass ich dafür nicht anfällig bin, glaube ich.

Ensuite: Was also war Ihr Beweggrund zu diesem recht unansehnlichen Experiment, das Konvulsionen und krampfartigen Zuckungen nachgeht?

Foofwa: Ich war am Gefühl dieser Symptomatik interessiert, dieser vollständigen Unkontrollierbarkeit von Bewegung. Das ist auch die medizinische Analyse von Chore: die Unkontrollierbarkeit von Bewegung. Ich wollte wissen, wie man sich dabei fühlt.

Ensuite: Und?

Foofwa: Das Hin- und Hergeworfensein ist beängstigend. Man ist weniger der Akteur als vielmehr der Bewegte. Man fühlt sich wie ein Objekt. Und da lauert Gefahr. Der Leib wird gebeutelt. Dies alles zieht auch einen ganz spezifischen Geisteszustand nach sich. Man spürt den Sinn für die Realität schwinden. Das ist recht tragisch.

Ensuite: Viele Choreographen oder Regisseure suchen den Weg, den ein Geisteszustand über den Körper (des Darstellers) für uns Zuschauer erlebbar bahnt, d.h. ausdrückt. Sie suchen hier den umgekehrten Weg. Den Weg von der Somatisierung zurück.

Foofwa: Ja. Und besonders überraschend war, als sie sich verselbständigte. Als ich während der Probenphase nachts aufwachte und in Krämpfen lag.

Ensuite: Als Tänzer-Choreographen zeichnet Sie dieses Experiment. Was sind die Folgen? (Vergessen wir nicht, Ihre Vergangenheit birgt eine solide und anspruchsvolle Ballettausbildung...)

Foofwa: Das ist in der Tat so. Indem ich meine Stücke an mir ausprobiere, werden sie durch meinen Körper geknetet. Mein Körper einverleibt sich jede konkrete künstlerische Auseinandersetzung und verstaut sie in eine Art leibliches Gedächtnis. Das wird gewiss meine weitere Arbeit irgendwie beeinflussen. Der unmittelbarste Einfluss war aber in der Probenphase sichtbar. Meine Mitarbeiter erlebten mich nervöser, kraftvoller, aber auch gewaltgeneigt...

Ensuite: Im Rahmen des Genfer Musikfestivals war Chore mit seinen vor Ort waltenden Musikern eine Art Performance. Sah das Publikum Ihre Bewegung als Choreographie?

Foofwa: Teils-teils. Aber diese Ambiguität war wesentlich für das Konzept. Es war nicht auszumachen, ob ich krank war, schauspielerte oder einen Tanz absolvierte. Der Musiker, der etwas abseits das Geschehen beobachtete, während er an Schaltern herummanövrierte, glich einem Psychiater...

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