Mittwoch, 31. Dezember 2008

Ana Laguna und Mikhail Baryschnikov mit dem Béjart-Ballet


Das rote Cocktailkleidchen um den Ohren torkelt Julio Arozarena liebestrunken auf die Bühne. Er ist buchstäblich der Dame seines Herzens und ihrem Duft erlegen. Er lässt sich zu Boden, schleppt sich auf allen Vieren über den roten Stoff, um sich sinnlich darob zu ergehen. "Aria" heisst das Stück des neuen künstlerischen Direktors, Gil Roman, das er am 20. und 21. Dezember in Lausanne präsentierte. Der Béjart-Zögling und dedizierte Nachfolger hat sich manche choreographische Kunstgriffe vom Meister angeeignet. Sie dienen, um Effekte zu erzielen. Gleich zu Beginn hängen drei rotlackierte Schaukeln mit drei bezaubernden Damen, Beine keck übereinandergeschlagen. Die Füßchen sind angespitzt und kein Mensch erwartet, daß daraus Bewegung entstehe. Dafür bewegen uns sogleich die Goldberg-Variationen in Glenn Goulds Einspielung. (Play-Back zu den Tasten-Scheinübungen eines Tänzers in Pianistenpose). Wenn die Damen, "Les Ariane" (sic!) laut Programmheft, von der Schaukel gleiten, sich staksend nebeneinander positionieren und synchron die Rhythmen Bachs zur metrischen Unterlage ihrer Neoklassik-Etüden reduzieren, warten wir nur darauf, von der passenderen Musik Nine-Inch-Nails erlöst zu werden. Von den allgegenwärtigen Hüftakzenten abgesehen ist choreographisch keine Handschrift abzulesen. Schon gar keine einheitliche. Mancher Ensembleeinsatz in natürlichem Pastell, der übrigen Glanzästhetik unterlegen, spricht von der Kraft urtümlichen Tanzes. Er erinnert an die ergreifende Gruppendynamik Béjarts. Man kann in diesen Momenten nachvollziehen, wie sinnliche Erfahrung einer Bewegung, ihres Schwunges die nächste generiert. Wenn z.B. eine unformierte Horde breitbeinig mit dem Rücken zum Publikum mit links dann rechts in ein tiefes plié (Beinbeuge) stampft. Dem folgen im Puls, links dann rechts, seitlich ausschwingende Ellebogen. Sobald der letzte Schwung zur Körpermitte zurückfällt, nutzen sie ihn, um aus dem tiefen plié in die Höhe zu schnellen. Bei der brillianten Gruppe ist das ein halber Meter, gekrönt vom rückgebogenen Hals und dem Blick auf uns. Sonst aber darf das Ensemble um die Solisten kreisen und ihren Scheinwerferkegel säumen. Am Schluß (leider wieder auf Bach), liegt es am Boden darnieder. Bedeutsam senkt sich dann eine dicke rote Kordel, dessen ausfransende Enden jeder ergreift: das Béjart-Ballet zieht am selben Strang.
Der Titel des ersten Balletts des mehrteiligen Abends "Le Casino des Esprits" ist wenigstens explizit, und wir erwarten nichts Tiefgründiges. Es ist ein Auftragswerk Béjarts an seinen damaligen Solisten und Assistenten, zum 50jährigen Bestehen des Balletts. Eine Reihung von Konzerten für Flöte, Streicher oder geistliche Chormusik von Vivaldi begleiten wahllos das Ambiente eines dekadenten Venedig. Masken und zweidimensionale Papp-Rokokoröcke sind nur da, um die Gesellschaft proforma gedeckt zu halten. Doch bald entledigt sie sich derer und sie kann frei mit den Kurtisanen ihren Lüsten fröhnen. Eingestreute marionettenhafte Bewegungen stellen die einzige Stilisierung der fortwährenden konkreten Anmache dar. 

Kontrastprogramm bot dann Gastchoreograph Mats Ek mit "The Place". Ein asketisches 
Inventar, ein Teppich mit Tisch darauf, ist alles, was der Meister der Psychologie nötig hat, um ein differenziertes Bild einer Beziehung zweier reifer alternder Menschen zu zeichnen. Unter den Teppich kann man 
viel Vergangenes kehren, man kann sich gleich dazulegen, wie Ana Laguna es tat, um Mikhail Baryschnikov eine Solopartie zu überlassen. Er rückt sich ins rechte Licht, zumal wenn er sich auf die Tischplatte hochschnellt. Sonst dient
 diese, dem Partner zuvorkommend die combrés enarrières (Rückenbiegungen) abzufangen oder sich schneller zum Gegenüber (mit Windmühlen-Beinen) hinüberzuschwingen. Ihre Beziehung ist so vielseitig wie ihr Umgang mit dem Mobiliar. Mal schleppt sie ihn samt Teppich quer über die Bühne, mal träumen sie Seite an Seite einer Vision entgegen, hoch oben auf dem (mit Teppich) gedeckten Tisch. Ihr Angesicht silbern erstrahlend. Doch enden wird es umgekehrt: Der sechzigjährige Baryschnikov tritt ab, der Tisch trauert mit allen Vieren gen Himmel und Ana Laguna zuckt fragmentiert bis das Licht erlöscht. Mats Ek hat den Tanz einfühlsam auf die beiden Stars abgestimmt. Sie brauchen nicht sparsam tanzen. Und bleiben ehrlich. 
Was aber hat ein Mats Ek in diesem Ballettabend zu suchen?

Sonntag, 14. Dezember 2008

Dezember 2008


erschienen in Ensuite Nr. 72  S. 16:

World-Dance 
Sonst in Paris, London und Madrid zu Gast, wartet Merlin Nyakam mit anspruchsvollem afrikanischen Tanz auch mal in der Schweiz auf. Er war mit 16 Jahren schon Solist am Kameruner Nationalballett. Seit seiner Übersiedlung nach Frankreich weiss er, wie er afrikanische Ästhetik für uns Europäer aufzubereiten hat.
Ort: Forum Meyrin Place des Cinq-Continents 1, 022/989 34 34
Datum: 3. Dez 20.30 h
Winship Coly hat erst Klassik, dann Modern am Laban-Center in London studiert, bevor sie von der HipHop-Welle in Frankreich erfasst wurde. In diesem integrativen Tanzstil wagt sie sich nun bis zu den afrikanischen Wurzeln vor.
Ort: Esplanade du Lac Divonne 181, allée de la Plage Tel. +33 450 99 17 70
Datum: 4. Dez 20.30 h

G in Genf
Der einzige ‘schweizer‘ Abstecher während der Europa-Tournee des virtuosen Australian Dance Theatre ist neben Genf. Dort liefert es eine exaltierte Interpretation von Giselle: es verhandelt hysterische Tanzwut, Tod, Verlust und Metamorphosen. Der respektlose Umgang des Choreographen Gary Stewart mit der klassischen Balletttechnik ist so erfrischend wie der bei frühen Werken Forsythes. Doch bleiben über lange Strecken Ballettphrasen seltsam verschont und unzersetzt.
Ort: Annemasse (F), Château Rouge Route de Bonneville 1 Tel. 0033 450 43 24 24
Datum: 9. Dez. 20.30 h

Zürich
Wenn zwei Tänzer der Forsythe Company sich als Choreographen präsentieren, kann man gespannt sein. Und das, obwohl sie sich mit Fragen rumschlagen, wie "in welchem Moment genau verfehlte Absichten fehlschlagen".
Ort: Tanzhaus Zürich Wasserwerkstr. 129 Tel. 044 350 26 11
Datum: 19.30 h
An grossen Themen wie Liebe, Tod und Verlust arbeitet sich laut Ankündigung des Schauspielhauses der Chef selbst ab. Forsythes Choreographien werden immer verletzlicher, diesmal behandelt seine performative Installation die Agonie angesichts unheilbarer Krankheit.
Ort: Schauspielhaus Zürich /Schiffbau Schiffbaustr. 4 Tel. 01 258 77 77
Datum: 9.-14. Dez., 19.30 h und 21h.
Bern
Mit Tubeland bekommen die Schweizer zu sehen, was die Madrider bereits sehen durften: die ÖffÖff-Productions überspannen die Grenzen von Contact Improvisation (vgl. Ensuite Nr. 66/67) bevor sie als Künstler der Lüfte bei Live-Musik sich abseilen.
Ort: Dampfzentrale Marzilistr. 47 Tel. 031 310 04 45
Datum: 18., 21., 28. Dez. 19 h sowie 19., 20., 26., 27., 29. Dez. um 20 h

Freitag, 5. Dezember 2008

Josef Nadj: Last Landscape

Josef Nadj hatte vor seiner Pariser Tanzausbildung bildende Kunst in Budapest studiert. Nach Paris ist er eher wegen Marcel Marceau, bei dem er Pantomime lernte. Kampfsportarten und Contact Improvisation wurden ihm gleichermassen vertraut. Wenn Josef Nadj den Tanz in ein Gesamtkunstwerk situiert, so hat dies mit seiner Laufbahn zu tun. Eher als mit modischen Tendenzen. Als Leiter des Centre Choréographique Nationale de l'Orléans seit über zehn Jahren hatte er bereits anspruchsvolle literarische Vorlagen in Bewegung und Tanz umgesetzt. Woyzeck sei dafür ein Beispiel. Mittlerweile geht er aber vermehrt reduktionistische Wege. Zurück zu den Ursprüngen. Die Landschaft seiner Heimat sollte diesen schöpferischen Urzustand in ihm hervorrufen. Die Puszta von Kanizsa (nun Teil von Serbien) war dafür ideal. Der begnadete Schlagzeuger Vladimir Tarasov ist sein einziger Partner auf der Bühne. Das Stück entstand 2005 für das Festival in Avignon, das ihn für das darauffolgende Jahr als künstlerischen Berater holte. Der Film aus 2006 zeigt sowohl Szenen der Landschaft als auch die Wirkung, die sie auslöste, den Entstehungsprozess des Werks.
Wiederholung: 15. Dez. 8.00h
20. Dez. 3.50h

Montag, 1. Dezember 2008

Multi-Kulti (2): World-Dance


erschienen in ensuite Dezember Nr. 72, S. 13-16:

Die Gattung World-Music bzw. World-Dance steht ganz in der Tradition von Stilanreicherungen (vgl. Multi-Kulti (1): Stilmix), die besonders im 19. und frühen 20. Jhd. ausgeprägt waren. Im ersten Teil der Untersuchung des Multi-Kulti-Phänomens sahen wir, wie (auch gehobene) Tanzkulturen sich schon immer exotischer oder folkloristischer Stile bedienten. Wir verbuchten diese Einverleibungen unter dem Begriff Cross-over. Wenn aber die Folklore oder auch eine gehobene Kunst jenseits der Grenzen der tragende Stil ist, der sich mit unserer Kultur schmückt, nennen wir das World-Music oder World-Dance. Auch unvermischte traditionelle Kunst, z.B. indische Klassik, oder auch osteuropäische Volksweisen haben sich in das im Westen geprägte Genre eingeschlichen. Hier soll aber das Spezifische am World-Dance untersucht werden: Grenzgänger zwischen Kulturen. 
Musikethnologen führen den Begriff World-Music bereits seit den 70ern im Munde, die Musikindustrie seit den späten 80ern. Der Tanz hinkt zwar begrifflich etwas hinterher, in der Tat aber hatte er als sprachunabhängige Schwesterkunst nie Probleme der Grenzüberschreitung. Wir sahen (vgl. Ensuite Nr. 71) Ruth Page als eine Vorläuferin des Genres. Die fliegende Verbreitung und Beliebtheit dieser Gattung ist jedoch eindeutig ein Merkmal unserer Zeit. Die billigen Fluglinien und die Völkerverständigungsprogramm
e haben uns dabei beflügelt.
Drei Beispiele laden ein zum Hinschauen: London und sein indischer Star Akram Khan, der aus seiner hermetischen Diaspora-Kultur emigirierte, dann die ausländische Volkskundlerin, die sich der Alpenkultur bemächtigt, und schliesslich die ungarische Folklore, die erst den Sozialismus, dann die West-Euphorie unterläuft.
Akram Khan
Als Akram Khan mit sieben Jahren in London seinem Guru begegnete und ihm etwas vortanzte, wurde er zum Unterricht zugelassen, aber in der hintersten Reihe. Akram konnte jedoch schon Fischertänze aus Bangladesh und die kompliziertesten Rhythmen, die sich oft erst nach 16 Takten wiederholen. Fliessend indisch zu sprechen, Tabla(Trommel)-Rhythmen zu hinduistischen Festen zu kennen sind schlicht vorausgesetzt, wenn man in London mit Kathak anfängt. Zumindest an der Asian Academy of Dance. Der tanzgetriebene Akram fühlte sich vom
 Guru verkannt und angespornt, sich in die vorderste Reihe vorzutanzen. 
Eine 8-Mio-Weltstadt, deren grösste Minderheit mit 700 000 Einwohnern aus Süd-Asien stammt, kann sich eine eigene Akademie für den indischen Tanz leisten. Der Zulauf ist gross bei einem Tanz wie Kathak, der in Indien während der Ablösung von der Kolonialisation zu Ansehen gelangt ist. Die Kolonialherren waren bekanntlich Engländer, sodass die Förderung des Kathak in London neben Integrationshilfe auch eine gewisse Aufarbeitung der Vergangenheit darstellt. Für Inder aus der dritten Generation, wie Akram Khan, ist Kathak identitätsstiftend. Eine Rettung für die Mutter, die ihn damit sowohl den Einflüssen Michael Jacksons als auch der Strassen-Gangs entziehen konnte. Auf den Partys rockte der kleine Akram noch raumgreifend und tief in den Knien (Jacksons “Thriller” war sein Lieblingsfilm), er lungerte einstweilen noch mit den Gangs in den Strassen herum. Doch “uncool” wars da, sich für 'ne Tanzstunde abzuseilen. Wer jedoch das Glück hat, einen Guru als Mentor zu haben, der wird weise durch die hinduistische Lebensanschauung geleitet und saugt mit der verführerischen Musik und dem Sprechgesang ihre Philosophie und Religion auf. Für das Dschungelbuch, eine Art Tier-Musical, das die indische Musikerlegende Ravi Shankar ins Bühnenleben rief, schrieb der Guru dem ungebändigten Sprössling den passenden Tanz auf den Leib. Das Stück wurde ein Kassenschlager. Dann entdeckte ihn niemand geringeres als der Regisseur Peter Brook. In Mahabharata reiste der Teenager Akram auf dessen Welttournee mit – und durfte in der Mythologie seiner Ahnen schwelgen. Aber auch den Preis erkennen: in der Rolle des jungen Prinzen zollte er dort einem Guru treu Tribut (seinen rechten Daumen). Alte Zeiten, härtere Sitten. Was aber bis heute fortwährt, ist die besondere Bande, die ein Guru zu seinem auserwählten Zögling knüpft. "Dessen besonderes Talent nimmt mich in die Pflicht, ohne Vorbehalt das Beste meiner Künste weiterzugeben. Mehr als einem Sohn", meint Akrams Guru. Und der Schüler ergänzt: "Es gibt unter demselben Dach keine Demokratie. Ich fühlte immer, dass etwas über mir stand, dem ich nachzustreben hatte." Bedenken wir nun die strengen Regeln, die eine klassisch gewordene Kunstform seiner Schülerschaft setzt. "Der Abstand von vier Fingern ist zwischen Brust und waaggerechten flachen Hand, zwei zwischen beiden Mittelfingern, wenn sie sich gegenüberstehen. Und der Blick hat sich auf den mittleren Finger zu richten, um einen Zusammenhang herzustellen," erklärt er. Nachdem der Guru "vor der Öffentlichkeit und dem Allmächtigen", wie er sagt, den mündigen Akram Khan in einem Initiationsritus als sein Schüler ausgewiesen hatte, eine weitere Verfeinerung des Kathak in England aber nicht möglich war, setzte sich Khan dem zeitgenössischen Tanz aus. "Als ich die Welt des modernen Tanzes entdeckte, wo man sich ausdrücken konnte, empfand mein Körper ein Chaos... Unterbewußt mischten sich die Stile." Seine erste Choreographie mit abgeschlossenem (Modern-)Tanzdiplom sieht er als Ausbruch aus den "mathematischen Zwängen der Präzision" des Kathak. Sie nennt sich Loose in Flight. Sie ist frei von präzisen Posen, dafür beherrscht von den Dynamik-Extremen des Kathak. Das Arretieren von schnellen Schrittfolgen in einer anmutigen oft verwinkelten Pose, womöglich auf einem Bein, ist vielleicht das Beeindruckendste am indischen Tanz. In diesem Stück suggeriert Khan mit diesen Dynamiken, einer atemberaubenden Beschleunigung kulminierend im Innehalten einer Suspension, das Fliegen. Der Flug kann senkrecht nach oben erfolgen, wie Raketen auf seinem gleichnamigen Tanzfilm es suggerieren, oder in die Tiefe wie beim Raubvogel. Er kann aber auch als ein battiertes brisé (ein virtuoser Sprung mit aneinanderschlagenden Beinen) aus der klassischen Variation des Blauen Vogel daherkommen besser: -fliegen. Khan surft auf allen Stilen. Die vielen gewellten Armführungen zeichnen Vogelschwingen in die Luft, zumindest für jemanden, der wie ich nicht die indische Symbolsprache beherrscht. 
Warum Khan den Kathak nicht als ganzes in den Zeitgenössischen Tanz integrieren wollte, erfahren wir in den Interviews auf seiner Homepage.

An der Schnittstelle 
Akram Khan sieht seinen Tanz nicht als Fusion zweier Stile. Eine Fusion würde eine neue amalgamierende Sprache suggerieren, fürchtet er. Er fühlte sich bislang auch nicht reif, sämtliche Charakterzüge des Kathak in den zeitgenössischen Tanz zu überführen. Er bindet nur Seiten des Kathak ein, die das jeweilige Stück und sein Konzept erfordern. "Hybrid" ist das treffende Wort, meint ein Fachmann, auf den die Homepage verweist. Denn: Wenn zwei Kulturen mit kolonialem Hintergrund, nach Ablösungs- und Verdrängungsversuchen letztlich ins Gespräch kommen, ist die Natur des Gesprächs entscheidend. Eine Diaspora-Kultur, insbesondere auf dem heimatlichen Boden der ehemaligen Kolonialherren, wird erst einmal für die Wahrung ihrer Tradition optieren, die sie über Grenzen hinweg weltweit miteinander verbindet. Dann wird sie in Punkten dem Geschmack des Gastlandes entgegenkommen und in anderen sich von ihm bewusst abwenden. Wenn einer nun diesen Austausch zur Schau bringt, wie Khan explizit im Werk Kaash, so verrate der Erfolg auf den Tourneen folgendes: Der hybride Tanzstil trifft mit seinem Dialog die Erfahrung der Betrachter weltweit, die das Miteinander der multikulturellen Gesellschaften in einer globalisierten Weltwirtschaft so erleben (wollen), sagt der Fachmann /1/. Der Choreograph beschreibt den im Tanz praktizierten Dialog eher sportlich:
"Es ist die Dichotomie der Gegensätze. Der eine Ort, das wäre die klassische Welt, bietet einem Tradition, Geschichte. Es bietet einem Disziplin, auch etwas sehr Heiliges und Spirituelles. Und der andere Ort, der zeitgenössische, bietet einem eine wissenschaftliche Werkstatt. Es bietet einem eine Stimme, die gehört werden kann. Es bietet einem zahllose Entdeckungen und Möglichkeiten. In einer Position zu sein, von der aus man nach beiden greifen kann, ist der bestmögliche Platz für mich. An keinem der beiden Orte möchte ich zu lange verweilen. Ich bin immer in Bewegung, wie ein Tennisball, von einer Seite zur anderen, und mein bevorzugter Moment ist, wenn ich genau in der Mitte, über dem Netz bin. Dort bin ich am glücklichsten." /2/
Als der Guru die Premiere des Stückes Kaash sah, lobte er es. Bedeutende Teile stammten aus dem Kathak. Dem zeitgenössischen Tanz sei damit viel gewonnen. In den Kathak sind aber modernere längere Linien (er streckt veranschaulichend die gerundeten Arme, die sein würdevoll geneigtes Haupt umrahmen, etwas aus) nicht einzuführen. "Ich sagte dies Akram. Und er verstand."
Akram ist weiterhin in Kathak-Tänzen zu sehen. In unverstellt authentischen.

World-Dance der Alpen
World-Dance ist, verstehen wir den Begriff analog zu World-Music, 
sowohl jeder ethnische (religiöse oder ländliche) Tanz ausserhalb unserer Grenzen, als auch dess
en Mischung untereinander. Als exotische Kreuzung darf sie auch auf heimischem Boden spriessen. Es kann ihm auch tanzfremde Auswüchse aufgepfropft werden (z.B. jüngst Julia Stuckis
 Flamenco mit TaiChi) oder aber Veredelung (durch gehobene Kunst) blühen. Diese beiden Mischungen zählt man zum Cross-over über Genregrenzen hinweg. Eine gelungene Mischung von nahezu alledem ist auf dem Binnenmarkt zu haben:
Sjoukje Benedictus kam vor gut 20 Jahren in die Schweiz, beschwingt mit einem frischen Modern-Dance-Diplom und einem für Internationalen Volkstanz aus Rotterdam, um ein Studio und eine Companie zu gründen. Da wollten die hiesigen Trachtengruppen sie gleich wieder aus dem Land haben. "In Holland, nutzten alle, auch die Jungs, Volkstänze verschiedener Nationen zum fröhlichen Miteinander ", berichtet sie. Hier wachten Trachtenvereine ohne jugendliche Freude mit Reglements über Schritt und Tracht. Hier wurde im völkischen Ernst der 20er und 30er Jahre die Tradition zelebriert. Dieses Erbe diffamierte den Volkstanz in der zeitgenössischen Tanzszene. Die Holländerin fand so schlicht keine Schweizer Tänzer für ihre Gruppe. Das zeitgenössische Tanzmilieu hatte ihre Berührungsängste und blieb den Vorstellungen erst einmal fern. Jetzt habe sich die Lage an beiden Fronten entspannt, meint sie, und das Publikum mische sich.
Ihre Gruppe d‘Schwyz tanzt geht konkret von Volkstanzschrittmaterial aus und setzt ihm choreographisch den Massstab zeitgenössischen Tanzes an. Sie unterwirft es einem thematischen und inhaltlichen Konzept, verfremdet das Material und verbindet es passend mit dem modernen Tanz. Dies zum einen. Zum anderen bezieht sie ihre Tänzer, "den ganzen Bürger", wie sie sagt, über Improvisationen zu konkreten thematischen Vorgaben mit ein. Damit fliessen auch zeitgenössische Elemente ins Stück. Im Tanz-Fuer beispielsweise, liess sie den Tänzern freien Lauf zum Thema "müde Wanderer". Und im Handumdrehen bogen und wölbten sie sich übereinander, während manche solch angehäufte Bürde voranschleppten. Oder während andere ein anvertrautes erschöpftes Körpergewicht im Handumdrehen, genauer: um den eignen Oberarm drehend, in einen Salto-Überschlag umwandelten. Contact-Improvisation feiert da im Stück sein Bergfest. Ein andermal kommen grosse Milchkübeln angeschwungen. Männer schwenken sie gewichtig im Raum herum, während Frauen mit kleineren heranschlendern. Auch sie nutzen beim Kreisen Fliehkraft der (verschlossenen) Milch, wenn sie vor dem Drehen ausholen, und nach ihm dem Schwung nachgeben. Der Kopf folgt da wie ein Satellit parallel zur Kanne die Umlaufbahn um die Körperachse, und darf nach Drehungsende im Ausfallsschritt mit ausschwingen. Kopfschwünge erinnern uns an einen Modern-Dance-Stil: an den José Limons aus Mexiko. Er ist in der Alpwelt angekommen. Kein Zufall: Der Tanzstil wurde von seinem Freund und Solisten Lucas Hoving als Direktor in Rotterdam gepflegt. Noch ein weiterer Stil ist zu entdecken: Wenn am Ende des Festes die angeheiterten Bauern mit einem Mal sich gegenseitig auf den Schoss setzen (reihum, und der Kreis schliesst sich!), im Chor den Rumpf beschwipst-eiernd kreisen lassen, die Runde wie verwelkt auseinanderbricht und zu boden rollt - sind wir an Bewegungschöre erinnert. Mary Wigman war deren Meisterin. Die Wigman-Schülerin Corrie Hartong und Gründerin der Rotterdam-Akademie überlieferte sie und Sjoukje Benedictus versah sie mit Humor.
Und was sagen wir, wenn zum Alpensport des Schwingens die schweizer Band Bärner Tanzmusig einen Tango am Akkordeon schrubbt? Nein, nicht world-music, sondern Ironie. Denn hier wird ein Tabu gebrochen, meint Sjoukje Benedictus. Eigentlich nur Männern vorbehalten, packen hier zwei Frauenpaare einander an den Kampfhosen an. Der Zuschauer schmunzelt. Mit Mischungen kann man also auch Abstand gewinnen, zur eigenen Kultur.
Und werden sich die Zutaten der Volkstänze immer weiter mischen, bis wir im World-dance weltweit dieselbe Hüttensuppe geniessen? Abscheu vor dem Multi-Kulti-Gemisch kommt oft aus einer xenophoben Ecke. Umgekehrt treibt uns zur undifferenzierten Mischkost der schnelle Konsum. Hat der freie Markt sich des multikulturellen Trends bemächtigt und wird im Tanz wie bei Benetton mit Farbe Profit gemacht? Ob eine eingehende Auseinandersetzung mit den herangezogenen Tanz- (und Kampfsport-)Techniken stattfindet, ein ernstzunehmendes Konzept als Rezept hinter der Mischung steckt, oblieg dem mündigen Zuschauer zu entscheiden. Dass allem Volkstanz "universale und genuine Formen innewohnen, das Drehen, Hüpfen, Hand in Hand tanzen", wie die ‘Internationale Volkstänzerin‘ meint, mag stimmen, doch darauf herunterkochen wollen wir die Suppe nicht. Zum Glück liefert uns Sjoukje Bendictus im Einzelfall mehr. Mit ihrem jüngsten Stück: "Salz".

World-Dance unterwandert
Dem Musikethnologen Béla Bartók folgten bald auch Tanzethnologen. Auch sie betraten den Pfad der Feldforschung. Seitdem ist Folklore ein eigenständiges Studienfach an der Budapester Tanzakademie. In den 70ern und 80ern wurde der heimische Volkstanz richtig populär: Das Volk, das sich weniger als Proletariat verstand, versammelte sich in sogenannten Tanzhäusern und übte teils verschollene bäuerliche Weisen des Feierns wieder ein. "Stillen Widerstand" nennt der Choreograph Gábor Katona die lautstarken Bands und temperamentvoll jauchzenden Tänze. Mit der Öffnung des eisernen Vorhangs fiel der Blick jahrelang auf angelsächsische Trends. Doch wie die Enttäuschung an der Globalisation bei uns Altermondialisten gebärt, so bei den vom wilden Kapitalismus überrollten Osteuropäern "eine Renaissance der Volkskultur". Doch viele meinen damit nicht Nabelschau. Diesen Sommer hob man einen europäischen Wettbewerb zeitgenössischen Volkstanzes aus der Taufe. Gábor Katona war ein Teilnehmer. Der ehemalige Solist des Budapester Volkstanzensembles wechselte ehedem zu einer zeitgenössischen Tanzgruppe. Die langjährigen Tanzerfahrungen mit dieser impften seine Wurzeln nachhaltig und prägen nun seine Choreographie. Was er vom Volkstanz mitnimmt ist die formale Bewegungssprache: der charakteristische Rhythmus von Schrittfolgen, die Dynamik oder Haltungen beim Paartanz. Damit keine Versatzstücke von Tänzern aufgegriffen werden können, möchte er keine Folklore-Tänzer mehr. "Ich wünsche mir deren aufrechte stolze Haltung geschmeidiger, dafür das Rhythmusgefühl der Modern-Tänzer wiederum ausgeprägter." Nein, die Bodenarbeit (das Rollen und Springen am Boden) fehle ihm nicht, - für ihn bedeutet Tanz weiterhin ein Spiel mit der Balance auf den Beinen. Der Boden wird ihn wohl noch herausfordern. Er werde die Herausforderung aber kreativ annehmen, meint er. Angenommen und schöpferisch verwertet hat er schon viel vom zeitgenössischen Tanz: Die markante Impulsweitergabe, wenn der Mann die Kniekehlen der Frau berührt, von wo aus sie dann Gelenk für Gelenk einknickt. Oder das dynamische Gewichtabtreten beim Partnern, wenn die Frau sich nach zurückweichenden Schritten wie vom Magnet wieder angezogen auf Halbespitze (und apart angezogenem passé-Bein) dem Mann entgegenkippt. Er hält standhaft seine Brust hin, zu der ihr Körper im Profil eine Diagonale bildet. Bis er dem Druck ausweicht oder sie nach einer Hebung wieder in die Ausgangsstellung bringt. Da capo. Bei sechs Paaren gemahnt das wellenartig Aufeinanderzu- und Wegbewegen an einen Akkordeon. Doch die Worldmusic-Begleitung liefert einen Saxophon und norwegischen Ethnojazz. Die Generation, die in den 70ern und 80ern sich in den Tanzhäusern der bekanntlich lustigsten Baracke des Ostblocks tummelte, scheint unterm Deckmantel des World-Dance nun den westlichen zeitgenössischen Tanz zu unterlaufen. 
/1/ Ramsey, Burt. Contemporary dance and the performance of multicultural identities, Konferenzvortrag in Kopenhagen 2004.
/2/ zit. nach Cool, Guy. (Khan's Dramaturg) in einem Text zu Sacred Monsters, vormals auf der Homepage geladen, autorisierte Übersetzung.

Dienstag, 25. November 2008

Pascal Rioult


High-Quality-Graham

Das Pascal Rioult Dance Theatre aus New York ist eine Rarität im deutschen Sprachraum. Die zwei Abstecher diesjahr in der Schweiz nach einem vor drei Jahren sind den französischsprechenden Welschen zu verdanken. Dabei kann man anders kaum zu High-Quality-Graham heutzutage kommen. Einen einzigen Franzosen zählte die Graham-Companie, heisst es im französischen Programmheft von Ravel Projects am Freiburger Theater Nuithonie. Kein Wunder, musste doch Martha Graham ihren technisch sich rasant entwickelnden Stil den Zöglingen von Kindesbeinen an, vor Ort, lehren. Um dann die Besten für ihr Ensemble auslesen zu können. Kein Hindernis für Pascal Rioult, ist er doch von berufswegen Hürdenspringer (der Nationalen Auswahl in Frankreich) und eben Mann. Ein Vorteil in der Branche. Nach kaum einem Jahr in der Merce Cunningham-Schule nahm er die nächste Hürde: die Companie der Grande Dame des modernen Tanzes, der er bis zu ihrem Tod, neun Jahre angehörte. 
Dennoch mischt sich viel Neoklassik in Pascal Rioults Choreographien. Mag sein, dass die tänzerische und schwungvolle Musik von Maurice Ravel ihn davontrug. Die besten Stücke sind entsprechend, wo er dem Morbiden in Ravels Musik auf der Spur ist. Im Stück Wien auf Ravels Valses schafft Pascal Rioult eine so dichte Atmosphäre der treibenden und dekadenten Lust der Jahrhundertwende, dass man den Atem anhalten möchte. Eine gedrängte Gruppe hastet im tief-hoch-hoch die vier Bühnenseiten entlang, trägt die gute Laune wie ein Schild vor sich her. Ab und an entgleitet einer zu Boden, rafft sich eiligst wieder hoch. Hat jemand was bemerkt? Der endlose Lauf zieht sich zu einem engen Kreis. Was andernorts sich in entspannt-geselligen Walzerrunden wiegt, ist hier zusammengeschnürt zu einem schwindelerregenden Kreisel. Schrill zur Rampenecke fokussiert. Hände flattern in der Magengegend, Knie erzittern immer wieder, die Luft im Ballraum scheint zu vibrieren. Dieser Kreisel nährt keineswegs herkömmlich unsere Schaulust am jahrhundertealten Faszinosum einer spitzen Form, die erst in Bewegung stabil wird. Rioults Kreisel ist am Kippen. Die eine Kreishälfte, an der anvisierten Rampe links, ist bodennah, die schräg-hintere dagegen oben, wie sie im Sprung die Tänzer nacheinander elyptisch für einen Moment hinausschleudert. Ein choreographisches Bijoux, eine Kür für Ensembleleistung, wenn sie denn eine Disziplin wäre. Die Paare, die sich schliesslich wie Planeten mit ihren Monden in wechselnder Konstellation von der elyptischen Bahn absondern, sind unpersönlich wie das Gestirn. Die Frauen werfen sich weichenden Männer von hinten an den Hals, ohne ihnen jemals in die Augen geblickt zu haben, und lassen sich mitschleifen. Wenn die grahamschen Kontraktionen im rasanten Fluss des drängenden Dreier mitgerissen werden, sind sie nur schmerzhafte Akzente der sich in leichte Freuden (weg)werfenden Generation. Die Kontraktionen auflösenden "Releases" sind geschleudert, und die Dynamik degeneriert zunehmend zur Hysterie. Von Erlösung keine Spur.
Auch das zweite Stück, das überzeugt, ist ein Ensemblewerk: Bolero. Vierzig Jahre nach Béjarts enstanden, meidet es jede Ähnlichkeit. Keine sinnlichen (taktile) Motive, noch pulsierende Hüften. Es baut auf die minimalistische Kompositionsform auf, ein endlos aneinandergereihtes Thema, getragen von einem unbeugsamen Metrum. Die Musik hat durchaus etwas Mechanisches. Und Rioult nutzt es in kühlen Parallelen (der Unterarme z.B.) und Geometrie (Gruppenformen). Keine Wallungen, nur selten lockern verstreut versäte Körperwellen die nüchternen Winkelreihungen auf. Wohltuend emotionslos und "asexuell", wie es im San Franzisco Chronicle heisst, kommt der schon-nicht-mehr-zum-Anhören-Bolero daher. Sind zu Beginn die Formen noch einfach, aufrecht, unspektakulär, werden sie zunehmend virtuos und das Gruppenzusammenspiel dynamisch. Suchen wir nach Graham-Elementen anfangs vergeblich, wartet gegen Ende die Companie mit ihnen auf. Kurz bevor der Vulkan ausbricht, Steigerungen schon nicht mehr möglich scheinen, rhotieren die Tänzer in ihre grands battements (durch einen kontraktierenden Impuls im Becken) heinein und stürzen sich in gedrehte (!) arabesques penchés, Kopf und Blick zu Boden. Techniken, die Martha Graham uns vermachte. Und so unpathetisch geboten das Publikum überzeugte.

Samstag, 15. November 2008

November 2008

erschienen in Ensuite Nr. 71, S. 16:

Region Genf
Indem Russell Maliphant an der Royal Ballet School ausgebildet wurde, dann aber Contact-Improvisation, Tai-Chi u.a. nicht scheute, ist er so vielseitig, wie ein erfolgreicher Zeitgenosse zu sein hat: er kann für das Royal-Opera-House in London (Broken Fall mit Sylvie Guillem) choreographieren als auch für die Batsheva Dance Company. Hier ein seltenes Gastspiel in der Schweiz:
Ort: Forum Meyrin, Place des Cinq-Continents 1 Tel. 022 989 34 34
Datum: 18. Nov. 20.30 h


Nach einer Weinprobe an den Rebenhängen des Genfer Sees, könnte man sich einen humorvollen Ausklang leisten:10 km von Genf, in Annemasse, gastiert die französische Gruppe Propos, welche ihren schwungvollen zeitgenössischen Tanz mit Breakdance oder Kunstgriffen aus der hohen Schule des Zirkus immer überraschend und originell aufzulockern weiss.
Ort: Annemasse (F), Château Rouge Route de Bonneville 1 Tel. 0033 450 43 24 24
Datum: DéBatailles 25. November 19.30 h


Zürich
Wen es nicht so weit vom Kamin treibt, der kann kleine Experiment-Stücke von Choreographen aus der Region betrachten oder Anna Huber, Artist-in-Residenz der Berner Dampfzentrale, in unsichtbarst zu erblicken suchen. Oder das Schwergewicht Artifact von Forsythe sich zu Gemüte führen.Ort: Tanzhaus Zürich Wasserwerkstr. 129 Tel. 044 350 26 11
Datum: unsichtbarst. 6., Nov. 20.30 h, 7. Nov. 18 h
12 Min.Max. spezial "Kurzstücke / Experimente / Work-in-Progress ", 1. Nov. 20 h, 2. Nov. 18 h, 7., 8. Nov.
Artifact: Ort: Züricher Opernhaus, Theaterplatz Tel. 044 268 66 66
Datum: 8. November 20 h


Bern
Im Rahmen des Tanz.In Bern ist noch Cher Ulysse von J.-C. Gallotta zu sehen, sowie das Bern Ballett mit Jiri Kylian, Karol Armitage und der Ballettchefin Cathy Marston (vgl. Besprechung in Ensuite Nr. 70)
Cher Ulysse: Ort: Dampfzentrale, Marzilistr. 47, Tel. 031 310 04 45
Datum: 1. Nov. 19.30 h
Ort: Fribourg, Nuithonie, Rue du Centre 7, Tel. 026 407 51 41
Datum: 4. Nov. 20 h
Kylian/ Armitage/Marston Ort: Stadttheater Bern, Kornhausplatz Tel. 031 329 51 51
Datum: 2. Nov. 18 h, 8., 13. Nov 19

Multi-Kulti (1): Stilmix

erschienen in Ensuite November Nr. 71 S. 13-16:


Wenn dieses Jahr der Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui Shaolin-Mönche direkt aus dem chinesischen Kloster im Stück Sutra uns auf die Bühne stellt, dann ist das zeitgenössischer Tanz. Wenn andernorts Breakdance mit indischem Tanz konfrontiert wird, wie die Companie Accrorap in Corps Etrangers, erleben wir ebenfalls pulsierenden zeitgenössischen Tanz. Sind dem Tanz von heute die Ideen ausgegangen und bedarf es externer Inspiration? Reiht sich das Phänomen Stil-Mix in die westliche Tradition mit exotischer Ornamentik ein oder ist es Ausdruck eklektischer Postmoderne?
Der Multi-Kulti-Stilmix ist kein neuer Trend, er hat viele Vorläufer in der Geschichte und sagt dennoch in seiner Impertinenz etwas Spezifisches über unsere Zeit. Schon die Schaolin-Mönche sind eine Ausprägung grenzüberschreitender Einflüsse: Im Zuge einer Verbreitung des Buddhismus von Japan aus nach China, vermischte sich die friedfertige Lebensanschauung im 6. Jhd. in Shaolin mit dem dort praktizierten chinesischen Kampfsport. Wo Missionierung, Handelsverkehr oder Völkerwanderung Menschengruppen bewegte, dort hinterliessen sie auch kulturelle Spuren.

Mix zwischen dominanter Kultur und Volkskultur
Eine Volksgruppe mag den Tanz nun so verfeinern und als repräsentativ erachten wie die Aristokratie es am französischen Hof tat. Sie mag sich zudem noch eine professionelle Truppe leisten, die ihr höfisches Theater bedient. Dann ist der Weg frei für einen Stilmix einer besonderen Art: die dominante Kultur (das Ballett) bereichert sich bewusst mit exotischen Figuren und Stilen der Volkskunst. Die Turquerie /1/  im 17. Jhd und der spanische Tanz im 19. Jhd sind dafür Beispiele. Seit dem Vordringenden des osmanischen Reiches, bald bis an die Tore Wiens, stiess der Orientalismus auf zunehmendes Interesse. So durfte 1596 eine Troupe armée des Turcs im Schloss aufziehen und die Schaulust des Hofes befriedigen. Orientalismus-Lehrstühle wurden geschaffen, Enzyklopädien, Theaterstücke (von Molière und Lully) mit Musik und Tanzeinlagen. Dem doppelten Reiz des Fremden, dem bedrohlichen und verführerischen, konnte so genüge getan werden. Im kunstvoll inszenierten Einsatz von Tanz spielt Exotik gewollt oder ungewollt auch eine politische Rolle. Am Hof von Louis XIV eine eindeutig selbstherrliche. In Molières Stück wurden die türkischen Zeremonien so verzerrt, dass sie die Muslime geradezu denunzierten. Die ‘türkischen’ Passagen hatten musikalisch und wohl auch tänzerisch kaum spezifische Charakteristika, Authentizität war kein Anliegen. Aneinandergereihte Drehungen und heftiges Gestikulieren in bunter Tracht reichten für die Zwecke aus. Der höfische Tanzmeister Noverre verteidigte sich einmal: dem Publikum seien ursprüngliche Volksweisen nicht zuzumuten. Es verlange alles “mit Eleganz und Geschmack” zubereitet /2/. Die Aufklärung löste das Gesellschaftsaffirmative mit der Gesellschaftskritik ab. 1758 führte die Ballett-Pantomime Le Turque généreux auf Anordnung der Kaiserin Maria-Teresas den Edelmut orientalischer Herrscher vor, welche vom türkischen Botschafter auch wohlwollend honoriert wurde. Die ‘türkische’ Musik, vielleicht auch durch die geographische Nähe des Wiener Hofes, war schon spezifischer, so wohl auch der Tanz. In der Romantik gewann man schliesslich einen Blick fürs Detail. Denn nun erwachte das Interesse an der Volkskultur schlechthin (Märchensammlungen, Lieder etc.). In dieser Zeit wurde der Charaktertanz als eigenes Fach in das Ballett und die Ausbildung integriert und nahm stattlichen Raum in den grossen Handlungsballetten (von Marius Petipa) ein.
Allmählich gestanden auch in Frankreich tonangebende Tanzkritiker wie Théop
hile Gautier den Vorzug des Authentischen (einer Lola Montèz spanischer Herkunft) gegenüber der virtuosen Aneignung fremder Stile durch die Profitänzerinnen wie Fanny Elssler oder Taglioni ein /3/. Zuvor hatte er Lola noch mangelnder Technik wegen zerrissen. Nun fragt er seine Leser, von der Lebhaftigkeit und Leidenschaft Lolas befangen: “ist Tanzen eine solch ernste Kunst, dass sie keine Innovation oder Kaprizen zulässt? Ist es wirklich notwendig an unbeugsamen Regeln festzuhalten?“ /4/.
Eine zunehmend ethnologische Auseinandersetzung von Künstlern begann aber erst gegen die Jahrhundertwende. Maler wie Gauguin widmeten sich dem Primitivismus, studierten Farb- und Lichtverhältnisse in tropischen Ländern, Musiker wie Béla Bartók betrieben Feldarbeit vor Ort und zeichneten die vielfältige Volksmusik des Balkans auf Tonträger auf. Während dieser erste Musikethnologe bereits seine Entdeckung kundtat, wonach die ungarische Musik wie Liszts Rhapsodia hungarica eigentlich auf Zigeunerweisen fussen, die magyarischen Bauernmelodien dagegen oft den Pentaton nutzen (ein Erbe aus dem Orient), sind Tanzethnologen und ihre Ergebnisse noch nicht so präsent.

Wachsende Authentizität
Wir wissen, welche Macht orientalisch oder griechisch anmutende Stile über Tänzerinnen im Jugendstil ausübten. Doch weder Ruth St. Denis, noch Isadora Duncan nutzten die in der Ethnologie aufkommende Forschungsmethode der “teilnehmenden Beobachtung” für etwaige Studien vor Ort. Sie reisten zwar viel auf Tourneen, nicht aber zu Studienzwecken. Studienreisen unternahm dagegen eine bereits versierte Tänzerin der nächsten Generation: Ruth Page. Sie notierte ihre Beobachtungen im Buch: Page by Page. Dancing around the World 1915-1980 und lieferte als eine Art Auslandskorrespondentin regelmässig Berichte an den berühmten Tanzkritiker John Martin, von der New York Times /5/. Im Abschnitt “ethnische Tänze” empfiehlt sie den Tänzern: geh’ und “shop around” (mach’ Einkäufe)! Profitiere von Tanzlehrern in aller Welt, um die Spannbreite der Ausdrucksfähigkeit, die der Mensch besitzt, kennenzulernen und die eigene künstlerische Empfindlichkeit zu verfeinern. Sie rühmte sich, Zeuge von Zigeunern in Granada gewesen zu sein, “die auf der harten Erde ihrer primitiven Keller Feuer und Leidenschaft sich aus dem Leib tanzten, noch bevor sie auf Bühnenbrettern touristische Attraktionen wurden”. Ausgerüstet mit dem gesunden amerikanischen Selbstbewusstsein und der vielversprechenden ‘Melting-Pot’-Ideologie, einverleibte si
e sich japanischen, indischen, balinesischen Tanz jeweils von Meistern. Zum paradiesischen, “orchideenhaften" Bali meinte sie: “Für mich ist ihre Wirklichkeit nur der äussere Ausdruck meiner Träume”. Das hinderte sie nicht, genau hinzuschauen. Die akribische Beobachtung der Haartracht und Kostüme diente, nebst Schritt und Ausdruck, wie nach dem Erwerb von auserwählten Rohstoffen zur Weiterverarbeitung (‘Veredelung’ war wohl nicht mehr möglich). Ruth Page bot das Endprodukt an New Yorker Theatern feil: “Two Balinese Rhapsodies”. Der Mehrwert klimperte in ihrer Tasche. Ihre Erfahrungen bereicherten auch den im amerikanischen Tanz der 30er sich abzeichnenden ‘Primitivismus’-Stil. Dann avancierte sie zur Tanzdirektorin der Chicago-Oper. Dort gelang Ruth Page, ganz im Bann der New Harlem Renaissance Bewegung und ihrem stilfusionierendem Jazz, ein Coup: Erstmals sollte ein abendfüllender Kunsttanz auf eigens komponierte Jazzmusik eines Schwarzen eine Negro Folk Play Groupe enthalten. Diese sowie die lokale schwarze Kinder-Tanzgruppe im Ensemble standen für Authentizität, wiewohl das Szenario eigentlich Martinique darstellte. Auf der Vorlage von Volksmärchen aus Martinique wollte Ruth Page die Hauptrolle tanzen, ballettisch sich gebären, im Finale jedoch als Hexe sich entpuppen. Als sie bald auf Katherine Dunham, die erste schwarze Balletttänzerin traf, war ihr Projekt
komplett: Die gesamte Companie des Abends bestand nun aus Schwarzen. Mit Dunham kaufte sie sich aber Authentizitätsanspruch ein: Da Dunham aus indianisch-westafrikanisch-madagassischer Herkunft war, im interdisziplinären und kosmopolitischen Geist der Chicago-Universität auf Unterstützung ihres anthropologischen Interesses stiess, wurde sie bald als erste Tanzethnologin auf den Weg geschickt. Mit einem Stipendium versehen durfte sie ihre Wurzeln in der Karibik erforschen und auf den Spuren ihrer Vorfahren tanzen. Sie wurde in Haiti mit offenen Armen empfangen, ihre tänzerische Fähigkeiten versprachen spirituelle Kräfte, und bald unterzog sie sich einem Initiations-Ritus zum Obi (einem spirituellen Führer). Die Empfehlungsbriefe ihres Professors wurden wohl dazu nur verräuchert. Von 1935-1937 betrieb sie Feldforschung, barfuss. Indem sie hervorhob, welch bedeutsame Rolle der Tanz ursprünglich in Kulturen hatte, stärkte sie die Position des Tanzes in der Moderne.
Die Beispiele, die angeführt wurden, zeugen von zwei Phänomenen, die in den letzten fünfzig Jahren auch getauft wurden, auf die Namen Cross-over und Multikultur.

Cross-over
Der Begriff Cross-Over hat nach Musikologen mit der Entstehung der Beurteilungslisten der Musikindustrie zu tun. Von den 20ern bis 1939 gab es wohl nur eine, welche die Beliebtheit von Musikstücken (und den absehbaren Kaufwert) bestimmte. 1943 gab es schon drei, die bestimmten Genre entsprachen, mittlerweile über vierzig. Die Aufteilung von Stilen und Publikumsgeschmack bildet eine Hierarchie, wonach die Hauptströmung (mainstream) die gängigste Musik ist, die aber der Nebenströmungen schon zur eigenen Abgrenzung bedarf. Cross-over wäre ein Aufsteigen einer Seitenströmung in die Hauptcharts. Manche vermögen darin ‘Integration’ und Akzeptanz marginalisierter Stile durch ein breites Publikum erkennen.
Wenn wir den Begriff auf die Genreüberschreitungen im Tanz anwenden, zeigt uns die Geschichte, dass schon immer das Bedürfnis bestand, hohen oder dominanten Kunststil (höfischen Tanz und Ballett) über Randerscheinungen, volkstümliche sowie exotische Stile anzureichern. Integration, Akzeptanz oder Kenntnis der betroffenen Kulturen bedeutete dies nicht.

Multikultur
Bewusstsein für kulturelle Vielfalt hatten das Habsburger Reich ebenso wie die Kolonialmächte und ihre Hochkultur in Frankreich und England. Was sich veränderte ist die wissenschaftliche Neugier, ihre Methoden und Techniken. Während in Amerika die Multikultur, idealisiert, identitätsbildend war (auch in Abgrenzung zum Dritten Reich), versuchen auch in Europa Kultusminister und Kuratoren mittlerweile, uns den Begriff schmackhaft zu machen. In Berlin entstand das Haus der Kulturen der Welt, interkulturelle Begegnungsstätten spriessen europaweit an allen
Ecken aus dem Boden, künstlerische Sozialprojekte versuchen in französischen Vorstädten und London das Explosionspotential zu kanalisieren und vielleicht gar für den Kulturbetrieb zu schröpfen. (Förderung indischen Tanzes in London, des Breakdancing in Lyon und Mobilisierung Jugendlicher der Berliner Vorstädte für die Berliner Philharmoniker in Rhythm is it! sind dafür Beispiele).

Wer hat noch Angst vor dem Multi-Kulti-Stilmix unserer Tage?
Im Zeitalter der grenzenlosen Mobilität und Mediatisierung sind die abgegren
ztesten Ethnien erforscht, abgeschiedene Lebensweisen gar im tiefsten Amazonien dokumentiert und kulturelle Nischen erschlossen. Minderheitenförderprogramme lassen diese zu
Wort kommen, Kulturprogramme sie an der zeitgenössischen Kunst teilhaben. Bangarra Dance Theatre z.B. verknüpft den Aborigines-Tanz Australiens mit zeitgenössischen choreographischen Elementen und tourt nun weltweit. Wir können in allen Städten afrikanischen, indischen Tanz lernen, Bauchtanz oder Capoeira. Interkulturelle Begegnungen sind auf der Tagesordnung. Auch beim Herstellen von Kunst. Wenn ein algerischer Immigrant, Kader Attou, sich mit indischen Kathak-Tänzern zusammentut, ist das Fusion, nach der Begrifflichkeit der Musik. Denn die Musik-Industrie hat das Genre World-Music bereits in den 80er eingeführt. Und kulturelle Cross-over innerhalb eines Genres nennt sie Fusio
n.
Solche Fusionen sind in der Entstehungsweise interessant, davon abhängig auch künstlerisch.

Fusion und Stilkontrast
Analog zum Genre World-Music müssen wir bei Koproduktionen genauer hinschauen: Bedienen sich renommierte Künstler einer exotischen (Klang- oder Tanz-)Kulisse, prägen dann aber in (post)kolonialistischer Manier mit ihrer dominanten Kultur das Ergebnis? Peter Simons produzierte mit dem Musikalbum Graceland authentisch vor Ort, in Südafrika, doch die afrikanischen Künstler blieben im Hintergrund. Fein geschulte Choreographen griffen in den 90ern in Frankreich gern auf die Breakdancer der exotischen Schwellenkultur zu
rück, aber eine ausgewogene künstlerische Zusammenarbeit entstand nicht.
Genau hinschauen lohnt es sich auch beim Stil. Welche Stile sind in die Zusammenarbeit eingebracht und was generieren sie?
Wenn Kader Attou, ein erfolgreicher Breakdancer aus den Bidonvi
lle Lyons, der heruntergekommenen Vorstadt, Lust auf indischen Tanz bekam, so gründet das in seiner HipHop-Kultur: Treffen, Austauschen und Teilen ist da das Motto. Sein Projekt traf gleich auf Zuspruch bei der öffentlichen Hand. Doch er zog erst einmal privat, ganz allein, ein Monat nach Achmedabad. Er wollte den Hintergrund der verschiedenen Richtungen verstehen. So erfuhr er, warum das Aufrechte, Stolze des indischen Tanzes ihn an Flamenco gemahnte: die Zigeuner hätten es auf ihrer langen Reise von hier entlang der Seidenstrasse über Europa bis Spanien gebracht. Er entschied sich in Achmedabad für den Kathak-Stil, zu dem der bodennahe Breakdance gut kontrastierte. In der rhythmischen Bearbeitung des Bodens wiederum treffen sie sich. Die energetische Behandlung von weiten Räumen, über Drehungen und propulsierende Ausfallschritte der Kathak-Tänzer, korrespondiert gut mit der rebellischen Dynamik der B-Boys, zeigt aber auch, wie Linien durch den Raum im Breakdance nicht existieren. Ob es ihn nervt, auf der Woge des Multi-Kulti mitzureiten? Nein, die Vorwürfe der post-postmodernen Kritiker, wonach das stilistische Patchwork-Verfahren nur spielerische Willkür und freies Surfen zwischen Bedeutungen sei, erreichen ihn nicht. HipHop ist ein Auswuchs dieser kulturellen Vielfalt, muss sich nicht verteidigen und wird auch weiterhin fremde Stile aufspüren und Elemente einverleiben. Wie eh und je. Und dann fährt er fort: Er bette sie auch in Geschichten, wenn auch in kleine. (Kader Attou kehrte soeben aus New York heim, wo er sein neues Stück Petites histoires.com aufführte).
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/1/ Dahms, Sibylle. "Die Turquérie im Ballett des 17. und 18. Jahrhunderts" in: Tanzen anderswo: intra- und interkulturell, S. 67-83. Münster 2004.
/2/ Noverre, Jean Georges. Lettres sur la Danse et sur les Ballets, Stuttgart 1760.
/3/ Jeschke, Claudia. "Die 'spanische Tarantella' der Lola Montez. Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts". in: Tanzen anderswo: intra- und interkulturell, S. 97-120. Münster 2004.
/4/ Guest, Ivor:  "Théophile Gautier on Spanish Dancing", Dance Chronicle, 10 1987 1, S. 1-105.
/5/ Meglin, Joelle. "Choreographing Identities beyond Boundaries: La Guiablesse and Ruth Page's Excursions into World Dance 1915 - 1980". Dance Chronicle, Volume 30, Issue 3 September 2007 , pages 439 - 469

Freitag, 24. Oktober 2008

New Dance Group


Die New Dance Group ist 1932 aus Studenten der New Yorker Mary-Wigman-Schule entstanden. Sie war ein Eckstein der revolutionären Tanzbewegung, die sich seit den 20ern herausbildete. "Tanz als Waffe im Klassenkampf" war ihr Motto und wurde von der linken Presse, aber auch von John Martin in New York Times, anerkennend behandelt. Die auch technisch und stilistisch interessante Bewegung veranlasste die Fachpresse (Dance Season in Review) 1933, Martha Graham namentlich (!) aufzufordern, sich in ihren Choreographien dem Zeitgeschehen zu öffnen.
Seit Jahrzehnten betreibt die Gruppe zwar Tanzschulung, bildet aber keine Compagnie mehr. Damit hält sie nicht die choreographische Tradition im öfffentlich Blick und Bewusstsein. Das soll sich nun angeblich ändern.
Die letzte noch lebende Mitbegründerin wird zu Wort kommen, historische Aufnahmen werden gezeigt. Im letzten Jahr wurde die New Dance Group durch die Aufnahme in das Nationale amerikanische Tanzmuseum in Saratoga Springs belohnt.
Wiederholung
2. November 2008 6.00 h

Donnerstag, 16. Oktober 2008

Oktober 2008


erschienen in Ensuite Nr. 70 S. 15:

MAFALDA in Zürich
Wie kann sich der Körper den Raum anverleiben? Eine gute Idee
 hat da die Company MAFALDA, wenn sie ihre Tänzer durch von der Decke hängende Klebest
reifen schleust. Raum als
 Behinderung von Bewegung wird schöpferisch nutzbar: Bleiben die Streifen haften, ist eine Raumlandschaft geschaffen und in die Körperhülle integriert. Dass die Idee sich nicht nur in starke Bilder niederschlägt, sondern auch die Tanzsprache der Beteiligten bestimmt, ist zu hoffen. Die bewegungsgewandte Choreographin Teresa Rotemberg zeigte kürzlich in Bern4 am Theater diese Stärke. 
Aufführungsort: Tanzhaus Zürich Wasserwerkstr. 129 Tel. 044 350 26 11
Datum: 9.,10., 11., Oktober 20 Uhr, 12. Oktober 18 Uhr


Gast in Luzern
Nanine Linning ist eine vielfach gepriesene Choreographin aus Amsterdam. Sie schloss and der Rotterdam Danse Academie ab und wurde Hauschoreograph am berühmten Scapino Ballett. Nun kann man sie als Gastchoreographin in Luzern mit Cry Love erleben. Sie setzt Körper gern mit Wucht ein, der Schwung wird trotz aller menschlichen Zerbrechlichkeit in der Thematik gewiss nicht zur Unkenntlichkeit zerpflückt.
Aufführungsort: Luzerner Theater Theaterstrasse 2 Tel. 041 228 14 14
Datum: 11., 16., 19., 24., 29. Oktober 19:30 Uhr


TANZ IN. BERN
Das vielfältige Programm des neuen Festivals rät zum Aussondern, denn Installation-Performance steht neben Tanztheater und Ballett - oder zum Probieren. Auch die Künstlerin-in-Residenz Anna Huber steuert eine Premiere bei mit ihren ehrlich suchenden, wenn auch oft verhaltenen Bewegungsstudien.
verschiedene Aufführungsort: Dampfzentrale Marzilistr. 47 Tel. 031 310 04 45
Datum: 15. Oktober bis 2. November


Festival TANZ IN. BERN

erschienen in Ensuite Nr. 70, S. 11-15:


I. TANZ IN. BERN: Frische oder eine Neuauflage des alten Festivals?


TANZ IN. BERN löst das Festival Berner Tanztage ab. Mit dem neuen Festivalleiter Roger Merguin und anschliessend mit drei beteiligten Choreographen sprach Kristina Soldati. Vom Festivalleiter wollte sie wissen, was er am Konzept weiterzuführen und was er zu erneuern gedenke.
MERGUIN: Innerhalb von 20 Jahren haben es die Berner Tanztage geschafft, sich als eine Art Institution in der Schweiz zu etablieren. Sie entwickelten eine grosse Dynamik, weckten die freie Tanzszene, die sich vor 20 Jahren erstmals wirklich manifestierte. 
Diese Frische möchte ich dem Festival wieder zurückgeben. Ich werde neben etablierten Choreographen wie Susanne Linke und Jean-Claude Gallotta auch internationale Neuentdeckungen präsentieren, die ich gerne mit dem Berner Publikum teilen möchte. Es wird eine stilistische Vielfalt geboten, die experimentelle Werke, Installationen aber auch bewährten Tanz umfasst. Damit das Publikum nicht nur die namhaften Pro
duktionen herauspicken muss, haben wir einen Festival-Pass eingeführt, der zum Preis von Fr. 120.—(für StudentInnen Fr. 90.-) während drei Wochen erlaubt, so viele Stücke zu schauen wie man will. Das soll die Lust am Experiment erhöhen und zum Ausprobieren ermutigen. Die Bandbreite des zeitgenössischen Tanzes, von den neuen Choreografen über die Grand Dame des Tanztheaters Susanne Linke bis hin zu einem Tanzparcours in der Stadt Bern soll erlebbar und bezahlbar sein. 
K.S.: Und das drei Wochen lang. Mit bis zu zwei Vorstellungen täglich ist TANZ IN. BERN anspruchsvoller als das vorangehende Festival. Wie schafft Ihr das?
MERGUIN: Der Beitrag der Stadt Bern wurde schon vor dem Ende der Berner Tanztage
 von 80 000 auf 200 000 CHF aufgestockt und wir können auch auf die Unterstützung des Kantons Bern zählen. Dann haben wir ein Fundraising für TANZ IN. BERN gemacht. Wir wollten uns aber nicht nur in die Abhängigkeit von Sponsoren begeben und setzten auf die Zusammenarbeit mit lokalen Institutionen wie die Tanzaktive Plattform, dem Institut für Theaterwissenschaften, der HKB, dem Stadttheater und anderen. Auch Botschaften der Gastländer konnten wir für das Programm begeistern. Wir nutzen auch Synenergien mit der Dampfzentrale, ihrer Verwaltung und technischem Perso
nal. 
Dem Festivalzentrum rund um die Dampfzentrale wird ein neues Gesicht verliehen, das Publikum wird sofort die Festivalstimmung erleben können – hier sei nur die Geisterbahn vor der Dampfzentrale erwähnt. Zur Auffrischung des Festivals gehört wohl auch, dass ihm durch die neue Leitung eine neue Handschrift verliehen wird. Ich schätze Ironie, Intelligenz und Humor im Zugang zu Tanzstücken. Das Gesamtkunstwerk, in dem der Tanz sich v
ertieft an verschiedenen Kunstformen wie Installation, bildender Kunst, Video, Literatur und Musik bedient, sich also in einen zeitgenössischen Kontext stellt, ist ein Schwerpunkt, den ich dabei setze.
K.S.: Nun, das tat auch schon das Tanztheater, und der neue Konzepttanz, der so arbeitet, befriedigt nicht alle Zuschauer.
MERGUIN: Ich setze auf eine gute Information über das Programm und hoffe, dass Qualität einfach geschätzt wird. Deshalb bieten wir Publikumsgespräche und Stückeinführungen öffnen Einblicke in die Werke. Stückausschnitte sind auch auf unserer Website zu finden - niemand soll auf eine falsche Fähre geleitet werden. Transparenz ist uns sehr wichtig.

II. Jean-Claude Gallotta und der Optimismus der Jugend
Copyleft ist das Motto der ersten Ausgabe des TANZ.IN BERN Festivals, der Nachfolge
 der Berner Tanztage. Was soll kopiert werden, was aufgefrischt, um kein Abklatsch zu sein? Nicht nur Festivalleiter Roger Merguin, sondern auch viele Künstler scheinen sich mit ihrer Tradition auseinandersetzen zu wollen. Jean-Claude Gallotta, seit über 25 Jahren Leiter des Centre Choréographique National de Grenoble, hat sein frühes Stück Ulysses, das grosse Beachtung erfuhr, wieder
 hervorgeholt. Der Choreograph erzählt dem Kulturmagazin Ensuite, wie das Anknüpfen und Neuschöpfen im jüngsten Werk Cher Ulysses inhaltlich und stilistisch bedeutsam ist.
Gallotta: Ulysses habe ich 1981 kreiert, nach meinem USA-Aufenthalt, wo Cunningham und seine Neubehandlung des Raums und der Zeit einen grossen Eindruck auf mich machte. Es ist ein flinkes, zuversichtliches und verspieltes Stück mit weissgekleideten Tänzern vor 
weissem Bühnenbild. Es würfelt das klassische Vokabular ebenso wie das des modernen Tanzes durcheinander.
K.S.: Die fliessende Bewegung, die das gesamte Stück durchzieht ist wie eine aufgedrehte Version vom Limon-Stil. Haben Sie alle vorzufindenden Stile dekonstruiert?
GALLOTTA: Das ist interessant. Ich habe selbst nie Limon gemacht, aber das Schroffe bei Cunningham hat mich so abgeschreckt, dass ich vielleicht in diese Richtung geflohen bin. Die Schaffensjahre danach lassen sich fast wie eine Abwendung vom Ulysses verstehen. Es folgten interdisziplinäre Stücke - ich hatte vor dem Tanzen bildende Kunst studiert 
-, auch fil
mische Werke. Und vor allem pessimistische...
K.S.: Das Tanzstück Cher Ulysses ist also ein bewusstes Wiederanknüpfen und doch mit Abwandlung?
GALLOTTA Bei der neuen Version habe ich das Originalwerk technisch und stilistisch sehr reduziert. Die Gesten und Zeichen habe ich so weit vereinfacht, dass sie auch für Amateure ausführbar wurden. Denn meine derzeitige Companie umfasst sowohl junge ausgebildete Tänzer als auch Amateure. Die Frage war, sie miteinander zu konfrontieren, zu sehen, was ihnen gemeinsam war, und zu vermitteln. Ich mag zwar Technik, aber die Tänzer müssen sie auch wieder loslassen können. Die auch altersmässige Mischung der derzeitigen Gruppe finde ich interessant. Was ich beibehielt, ist das allumfassende Weiss des Bühnendekors und die verspielte ungebrochene Dynamik. Die Wiederaufnahme von Ulysses ist also eine 
Art Paradox: Obwohl die Hoffnungen meiner jungen Jahre auf die Korrigierbarkeit der Welt argen Blechschaden erlitten, habe ich den ursprünglichen Elan aufgegriffen. Manchmal ist dieser Elan dann wie ein Leerlauf, er setzt sich fort, weil die Maschinerie einmal in Fahrt kam. Die Ambiguität spiegelt sich im Dekor wieder: Die grossen weissen Segeltücher rings um die Bühne sind nur halb gehisst, sozusagen auf Halbmast. Sind sie halb hoch oder halb runter, oder ist die Maschinerie kaputt? 
K.S.: Bei so viel verkopftem Tanz derzeit wird der Zuschauer sich über Ihre Bewegungslust freuen...
GALLOTTA Ich kann die zeitgenössische Tendenz dennoch nachvollziehen. Es gibt künstlerische Moden, die man durchstehen muss. Es gibt darunter interessante Vors
chläge. Allerdings wagt man heute kaum, ein Optimist zu sein und der Bewegung zu frönen. Ich denke, der Mensch hat derzeit einen Hauch Schwung verdient, ein Durchatmen. Kurz, ich fühle mich auf den Festivals am wohlsten, wo die Vielfalt waltet.

III. “Die Präzision in der Subjektivität” bei Alias
Der diesjährige Schweizer Tanzpreis geht an Guilherme Botelho und seine Companie Alias. Der Genfer Choreograph hat die Schweizer Tanzlandschaft seit den 90ern geprägt und sich einen guten Ruf auch im Ausland gesichert. Wir werden im Rahmen des Festivals TANZ IN. BERN die Gelegenheit haben, die Preisverleihung und sein jüngstes Werk Approcher la Poussière zu erleben:
Ein Tag wie jeder andere entfaltet sich auf der kargen Bühne. Ein Mann arbeitet zu Hause am Computer, die Frau betritt die Wohnung, worauf er bald aufbricht. An einer Haltestelle ruft er ein Taxi und fährt zum Hautarzt. Die ersten zehn Minuten zeigen diesen gewöhnlichen Tag mit wenigen markanten Bewegungen in einer dekorlosen Szene, ganz ohne Tanz. Nach der Heimkehr des Mannes wiederholt sich die Episode wie ein Reigen, und es kommen Feinheiten und kleine getanzte Abwandlungen zum Vorschein. Als ob beim näheren Hinsehen die Beschaffenheit der Oberfläche sich preisgäbe: Approcher la Poussière ist eine Schule des Sehens.
BOTELHO: Das Thema des Stückes ist die Realität hinter der Realität. Wie die nähere Untersuchung unter dem Mikroskop eine neue Wirklichkeit aufdeckt, so lüften scheinbar normale Begebenheiten so manches psychologische Geheimnis und Unausgesprochenes. Und die Struktur des Stückes folgt dieser Thematik. Mit jeder Wiederholung ufert die Episode an der einen oder anderen Stelle aus.
K. S: Die Einschübe und Abwandlungen an diesen überbordenden Stellen sind reine Bewegungssequenzen. Sie sind sehr ausdrucksvoll und verraten viel vom jeweiligen Seelenzustand der betroffenen Person. Die Geschichte selbst wird dagegen von recht schauspielerischen Bewegungen vorangetragen.
BOTELHO: Ich habe da wirklich keine Prioritäten. Ich arbeite sehr wenig den Bewegungstext. Aber reine Bewegung..? Ich verstehe nicht, was reine Bewegung ist. Für mich kann eine kleine Geste, eine einfache Pose so treffend und rein sein. In meinen Augen geht es darum, die Präzision in der Subjektivität des einzelnen nachzuzeichnen und herauszubilden, selbst wenn das paradox klingt. Ich suche im Alltag. Er ist mein Forschungsfeld und Inspirationsquelle, was die Essenz der Companie Alias ausmacht. Die Tänzer und ich gehen zum Bahnhof und studieren Persönlichkeiten. Deshalb interessieren mich auch Tänzer, die sich nicht hinter ihrer Technik und einem erlernten Stil verstecken. Jeder Tänzer trägt ein gewisses Gepäck an Bewegungen mit sich herum, das ihm das Leben aufgebürdet hat. Wenn er aus dieser individuellen Sammlung auspacken kann, schätze ich das.
K. S.: Das macht Ihre Stücke dann entsprechend recht eklektisch. Jeder hat seine charakteristische Bewegungssprache. So faszinierend das ist, birgt das nicht auch choreographische Einschränkungen? Sie werden wohl beispielsweise kaum einmal dieselbe Bewegunsphrase teilen?
BOTELHO: Doch, das habe ich einmal für mein Stück Frankenstein genutzt. Da defilieren Frauen in hautfarbenen Plastikkorsettes und -busen. Trotz ihres unterschiedlichen Wuchses sind sie in die identische Grösse gepfercht. Sie reihen uniform den gleichen Tanzschritt. Das kann sehr eindrücklich sein...
K. S.: Zurück zu Ihrem Werk Approcher la Poussière. Die Reaktion des Mannes im Stück an einer Stelle der Episode, die Sie in einer Tanzsequenz unter die Lupe nehmen, ist wie elektrisiert, wie unter Strom. Das haben Sie doch nicht im Alltag gefunden, oder?
BOTELHO: Na ja, nach dem Alltagsfund kommt die Arbeit, wir entstellen und verfremden das Material.
K. S.: Dann mögen Sie wohl auch Pina Bausch..?
BOTELHO: Ja sicher. Sie ist grossartig. Sie sagte einmal, sie schätze Tanzbewegungen zu sehr, um sie beständig einzusetzen und abzunutzen. Der Tanz und seine Bewegungen sind wie ein festliches Kostüm. Es kommt nur bei ausgewähltem Anlass zur Geltung. Aber beeinflusst bin ich wohl auch durch Filme von David Lynch.

IV. Karole Armitage zurück in der Schweiz
Karole Armitage liefert im Rahmen des Festivals TANZ IN. BERN tanztechnisch den anspruchsvollsten Beitrag. Kein Wunder, wurde sie doch auch schon von Rudolf Nureyev an der Pariser Oper für Choreographie beauftragt, von Mickail Baryshnikov für das ABT. Nach den Durchlaufproben ihres jüngsten Stücks in Bern beantwortet sie Fragen zur Herkunft ihres Stils. Sie erzählt von den Anfängen ihrer professionellen Laufbahn in der Schweiz.
Nein, moderne Bewegungen habe die Amerikanerin zu den Balanchine-Zeiten der Genfer Companie in den frühen 70ern als Solistin nicht vermisst. Sie kannte modernen Tanz gar nicht. (Erinnern wir uns, die Spaltung zwischen Ballett und Modernem Tanz war in Amerika, und nicht nur dort, tief. Man sprach sich nicht, man sah sich nicht.) Sie wollte allerdings beim Tanzen schon etwas mit unserer Zeit zu tun haben. So brachte ihre Schweizer Kollegin sie nach New York und setzte sie in eine Vorstellung der Merce Cunningham Company. Von dort kehrte sie nicht mehr zurück. Sie tanzte für Merce sechs Jahre lang.
Was sie von seiner Arbeit erben möchte? “Seinen hierarchiefreien Raum”, antwortet Karole Armitage. Er war nicht voreingenommen, welche Stellen der Bühne zwecks Wirkung vorzuziehen seien. Sie sind alle gleichwertig, wie auch seine Tänzer, am liebsten hätte er auch einen variablen Blickwinkel des Zuschauers. Überraschende Tänzer-Konstellationen hatten so eine Chance, wir wissen, dank Cages Zufallssystem, eine reelle. In Karole Armitages neuem Stück ist allerdings nichts dem Zufall überlassen, schon gar nicht Konstellationen: Die Formationsverliebtheit Balanchines schlägt immer wieder durch. Wir sehen mal gerade Linien quer über die Bühne ziehen, oder blumige Rankungen eines sich anfassenden Quartetts. Seine dekorativen Arm-Bein-Verflechtungen zitieren die Serenade Balanchines, das grosse Vorbild der Choreographin. Ob Karole Armitage sich der Unangepasstheit ihrer ausladenden Bewegungsphrasen in Zeiten der Fragmentierungen bewusst ist? “Na, ja. Der Tanz hat in den 60ern mit der Postmoderne bewiesen, dass er unabhängig ist. Keine Story, keine Musik, keine Bedeutung, keine Virtuosität. Nun kann man bewusst wieder an solche überholt geglaubte Werte anknüpfen.”, meint sie. “An musikalische Phrasen wie beim frühen, romantischen Janacek?” Diese Frage lockt sie aus der Reserve. “Ja und nein, Phrasen sind ja schon der Bewegung inhärent… Phrasen sind vielleicht meine choreographische Eigenart überhaupt. Nicht die Posen sind mir wichtig, sondern wie man hinkommt. Bei mir sind es Kurven und Kreise. Das hat mich lange Jahre gekostet, dem Ballett das einzubauen. Den Weg der Kurven und Kreise in den Tänzern zu verankern, in ihrem Zusammenspiel herauszuarbeiten und ihn spüren zu lassen war eine Herausforderung. Auch hier am Berner Ballett.” Bleibt abzuwarten, ob sich das Publikum von den Posen und akrobatischen Hebungen nicht täuschen lässt... denn: der Weg ist also das Ziel. Ein Tipp: man folge den Kurven... - auch wenn sie in die Luft gemalt und ephemer sind.
Und mit einem liebenswerten unschuldigen Blick fragt sie zum Abschied: “Wer hat noch mal mit fragmentierten Bewegungen was Interessantes gebracht?”, und dann: “Ähm ja, und ausser Forsythe?”

Montag, 15. September 2008

Streetdance

erschienen in ensuite Nr. 69, S. 12-15 :

I. Capoeira
“Ka-puera” heisst auf Tupí, der Sprache vor der portugiesischen Kolonisationszeit, Brachland mi hohem Gras. Doch deshalb wird nicht von einem Feldtanz die Rede sein. Denn ka-puera grenzte am Stadtrand Rio de Janeiros z.B., wo sich die eingeschifften Sklaven, die Plantagenbebauer, ihren marginalen Freiraum ertanzten. Der Kampftanz Capoeira hat zwar Vorläufer sowohl in der afrikanischen Kultur als auch der indianischen aus der Region, aber seine Eigenart entwickelte er unter den Kolonialherren. Den ganzen Tag von den Plantagenbesitzern drangsaliert, kehrten sie gern in den Kreis der Ihren ein, der wie im Candomblé Kult, ihrer Religion, sich mit einer Huldigung vor den Musikinstrumenten einstimmt. Berimbau, ein Saiteninstrument mit kürbisartigem Klangkörper gibt den Rhythmus vor. “Es gibt dem Capoeirista die Konzentration, die richtige Einstellung; ohne dem geht’s nicht”, meint Mestre Jairo in Bahia, wo er heute noch in den Strassen der Favelas lehrt. Das Fell der Seiltrommel Atabaque wird wie zum Empfang des Segens vom Tänzer berührt, und er betritt die Manege – kopfunter. Mit einem Radschlag begibt er sich in die Kreismitte, der Roda, wo alsbald ein zweiter sich dazugesellt: auch er berührt die Trommel und ein eigenartiger Dialog beginnt. Dem Martelo(Hammer)-Angriffstritt entspricht ein duckender Ausweichschritt und ein konternder Gegenschlag. Ein Scheinkampf entsteht, der ohne Berührung auskommt. Wie im Reigen löst ein neuer Tänzer per Handschlag den ersten ab, der sich in die Runde der
Umstehenden einreiht. Der Mestre am Berimbau singt vor, sie wiederholen den Refrain, ihr synkopiertes Klatschen hält das Geschehen wie eine akustische Klammer beisammen. Aus der Ginga, dem tiefen und stabilen Grundschritt, der nach beiden Seiten wiederholt werden kann, preschen die halsbrecherischen Sprünge, aber auch die peitschenden Beine hervor. Genau im Takt der Musik ausgeführt lässt Ginga den Partner berechnen, wann und woher die nächste Gefahr einbricht. Im ursprünglichen Capoeira Angola entweichen dem geduckten Schritt gern auch mal Täuschungsmanöver. “Malícia”, auf deutsch Schläue und Kriegslist, ist ein Wesenszug des Capoeira. Ein Straucheln wird da zum strategischen Schritt. Die Ambivalenz des Capoeira entsprach der Strategie der Konfliktbewältigung brasilianischer Sklaven: Ob Kampfübungen für den Widerstand, Kulttanz oder Strassenspiel, die Kolonialherren konnten es nicht entscheiden. So wurde sie von Machtgierigen mal verboten, mal instrumentalisiert. Heute
hat Capoeira eine Akademie, eine Rangordnung, weltweit Anhänger und wird seit Jahren in Frankreich gar an öffentlichen Schulen gelehrt.

II. Breakdance

Tanz erschafft seinen Musikstil
Was macht ein begnadeter Disk-Jockey, wenn Tanzwillige auf Partys rumhängen bis wieder geile Rhythmen aufkommen? Er nimmt diese Rhythmen und nimmt sie mal zwei. Zwei Plattenteller, zwei gleiche Platten und ein Verstärker waren die Instrumente Kool DJ Hercs aus der Bronx der 70er, um Tanzrhythmen am Leben zu erhalten. Kaum verklang der letzte fiebernde Beat des einen Vinyl, kurvte die Nadel schon auf der anderen. Der DJ rettet den Drive hinüber, indem er abflauende Songenden (und zögerliche Anfänge) kurzerhand übersprang. Meist waren es Schlagzeugsolos (Breaks), die drängten und sich entluden, welche so in mehreren Schleifen (Loops) wiederholt wurden. Diese bildeten den Grundbeat für den Hip Hop.
Den Beat begehrte also der Tanz. Die Breaks des DJ lieferten ihn. Die Lücken, die im Spagat zwischen zwei Plattentellern entstanden, steigerten nur die Spannung zur ersehnten Wiederholung. Und diese füllten die tanzenden B-Boys (und Girls) mit manch humorvollem Ausfall. Ein solcher Bodenfall brachte dem entstehenden Tanzstil den ersten Bodenkontakt, den sie nie mehr scheute, besagt eine Legende. Sonst tanzte man in der Bronx noch aufrecht: Variationen auf Lindy Hop bzw. Jitterbug (was Zappelphilipp bedeutet), Steptanz, Afro-kubanischen Tanz und Charleston. Der Beat des 4/4 Takts frass sich aber durch alles hindurch und der DJ heizte mit dem Mikro ein. Er skandierte Kurzreime wie aus Jamaica gewohnt (Toasts) - und schon war der Rap geboren.
Ein anderer liess gar die Platten tanzen: vor-rück, vor-rück, um den Übergang der Breaks noch in sich zu rhythmisieren. Seit 1975 bremsten und beschleunigten so DJ Grandmaster Flashs Finger die Platten, oder “scratchten” (kratzten) sie, denn der Puls des Beat durchzuckte alles. Die Tänzer ‘breakten’, wenn sie tanzten. Und zunehmend gen Boden. Bei so viel Animation wurde man kreativ. Im Bronx der fehdenden Banden und aufgestauten Energien kamen die Einfälle mit vollem Körpereinsatz. Die Stimmung war heiss, doch heisser noch auf den Strassen. Jedes Viertel der Bronx hatte seine Gang, jedes Fest unterlag deren Kontrolle. Afrika Bambaataa war Bandenführer der berüchtigten Gang Black Spades, als er Kool Herc 1975 erstmals hörte. Zwei Jahre drauf besorgte er sich sein eigenes Soundsystem und übernahm Hercs Stil. Seine Gang erlag dem Hip-Hop-Bann. Und mehr: der gewaltfreien Bewegung Zulu Nation.

Breakdance: gebändigte oder gebündelte Gewalt?
Afrika Bambaataa wurde in seiner Kindheit von den turbulenten Jahren der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 60er geprägt. Stolze schwarz-nationalistische Töne hörte er ebenso wie die der bekennenden Black Muslims am Familientisch. Doch die ausgewogene Vielfalt der Plattensammlung seiner Mutter von Myriam Makeba, Mighty Sparrow, James Brown bis Sly Stones integrationistischem Lied “everyday people” formten ihn weiter. So fliessen in seine Mitte der 70er gegründete Zulu Nation-Bewegung Religionen und Völker versöhnende Ideen ein. Er mobilisiert aber auch, ganz aufklärerisch, für hinterfragte Wahrheit – mit einer Prise Esoterik. Sein Motto positiv & engagiert forderte erstmal ganz konkret: Drogen-, Alkohol- und Gewaltverzicht. Afrika Bambaataa ist mit der Gründung dieser Bewegung wohl der spirituelle Vater des Hip-Hop. Er synkopierte als DJ die begehrten Breaks gern mal mit den eingespielten Reden des schwarzen Bürgerrechtlers Malcolm X. Tagsüber stellte er die Lautsprecher ins Fenster, damit die Strassenkinder von der Magie der Black Power Musik getrieben wurden - weg aus den Fängen der Gangs. Wenn aber wegen seiner Flugblätter mit Aufruf zum Drogenverzicht die (oft weissen) Dealer-Gangs aus Harlem zu seinem Fest anrückten, so brachen seine B-Boys wohl zur Not auch mal ein Genick.
Tatsächlich hatte jedes Viertel seinen DJ, seine Breakdancers (B-Boys). Doch seit Afrika Bambataas pazifistischen und antirassistischen Aufrufe, konnten diese Jungs Geländegrenzen übertreten, Nachbarsviertel aufsuchen, sich der Musik nähern und in ihren Kreis begeben. In der Manege rieben sie den Umstehenden die neuesten Tricks unter die Nase. In den Höfen und Treppenhäusern wurde geübt, damit die Replik am nächsten Tag sass. Jazzy Jay, ein B-Boy dieser Zeit erzählt in Jeff Changs Buch über Hip Hop, wie sie die Glassplitter sich dabei aus den Händen zogen. “Wir nannten das Kriegswunden” berichtet da ein anderer, “Du kümmerst Dich ´n Dreck drum, sonst bringt´s nix zu breaken”. Und ein weiterer: “Und sehr aggressiv, wirklich aggressiv, so dass ich anfangs dachte, es sei ein Gang-Tanz”. Fordert eine Gruppe eine andere im Breaken heraus – denn ohne Gruppen-Strukturen geht’s nun doch nicht -, nennt man es heute noch ‘battlen’. In der Bronx wurde gebreakt statt getanzt, um die Spannung abzuladen, Kraft zu demonstrieren, den Mehrwert des Körperkapitals im rohen Wettbewerb der Strasse kundzutun. (Und dieser akrobatische Mehrwert war zu steigern…) Matteo aus der legendären Rock Steady Crew beschreibt die Anfänge: “Die Gangs, die sich um ein Gelände stritten, organisierten ein Treffen, die beiden Kriegsführer ‘battleten’, und der Sieger des Tanzes bestimmte, wo der Kampf dann ausgetragen werden sollte” – denn nicht alle Gangs waren von Bambaataa zu bekehren.

Mit Stil
Trotz aller Aggression, die die Jugend des Armenviertels umhertrug, war es der Beat der Lebensfreude der in ihnen pulsierte und die verspieltesten Blüten trieb. Fundamental für das Breaken ist, sich dem Puls ganz zu ergeben: “you have to ride the beat”, meint Ken Swift der Pionier aus der Bronx. Deshalb geht der Toprock, Schritte im Stand zum Takt oder synkopiert, jedem Breaken voraus. Zum einen ist die Fussarbeit im Toprock, aber auch der Stil des Oberkörpers, welche die unverwechselbare Signatur des einzelnen B-Boys verraten. Das Popping z.B. ist ein Stil, der roboterhaft daherkommt, aber gerne sich zu einem fliessenden Vorwärtsbewegen kontrastiert, dessen Gewichtsverlagerung nicht auszumachen ist (der berühmt gewordene Moonwalk entwickelte sich von hier). Oder von einer alle Gelenke überflutende Körperwelle erfasst wird. Man kann auch ohne weiteres von einer Comic-Figur-Pose in die nächste springen und verharren, lehren die Meister. Je überraschender der Einfall, desto willkommener. Das Locking wiederum ist ein Stil, der gern mit weissen Handschuhen vorgetragen wurde, und wie eine gelungene Kreuzung zwischen Hampelmann und Verkehrspolizist erscheint. Die in alle Lüfte deutenden weissen Zeigefinger rühren der Legende nach aus der Zeit des Vietnam-Kriegs: Onkel Sam habe so auf Plakaten rekrutiert: “I want you!” Zum anderen präparieren die Schritte im Stand den Gang zum Boden, und der Beat dabei ist wie die Zündkerze am Motor, die richtig portionierte Energieentladungen für die Spirale abwärts zum Asphalt.

Breakdance-Welle
Ende der 70er sickerte der Breakdance in Downtown Manhatten ein. Vereinzelte B-Boys verschlug es nach Manhatten, wo sie, voneinander nichts wissend, durch Strassen zogen und sich aufspürten. Die so Rekrutierten trainierten, zogen sich Filme rein und wölbten und überschlugen sich bald auch mal nach Kung-Fu-Manier. Alt-Hippies, Künstlerrebellen, Aussteiger und Ex-Fans des Schwarzen Jazz aus New York City erkannten die Revolte und das Authentische der Bewegung, Hip Hop (der Name existierte noch nicht) eroberte die Clubs, - und die Kunstszene: Künstler auf der Spur der “radikalen Avantgarde”, wie sie meinten, dokumentierten den urbanen Stil im Film Style Wars oder im Handlungsfilm Wild Style. Die amerikanische Presse und Unterhaltungsindustrie folgte ihnen auf dem Fuss und stürzte sich auf die bizarren Früchte, die dem Asphalt entwachsen sind. Wobei mit Platten eindeutig mehr auf dem Markt zu holen war, weshalb der Tanz auch ins Hintertreffen geriet. Der Dokumentarfilm Style Wars filmte als erster den Strassentanz. Ein Jugendlicher namens Crazy Legs begibt sich dort auf alle Viere, über den Sixstep lässt er seine Beine in einem Radius wie eine Uhr um die Achse rennen. Sie hüpfen und überspringen sich dabei, als ob Stunden- und Minutenzeiger den Sekundenzeiger überholen wollten. Die aufgestützten Arme, der stabilisierende Mittelpunkt, müssen immer wieder die rhotierenden Beine übersteigen. Der Kreisbewegung lässt sich wie dem Wirbel ein Schwung entlocken. Der sich rücklings bei gleitenden Flächen im Backspin (Rückenpirouette) entlädt. Das sieht dann aus wie ein Käfer auf dem Panzer mit Drall. Albernheiten scheuten die B-Boys nie. Spass war das Ziel, und so nannten sie eine Endpose dieser Rückendrehung auch mal Baby-Freeze. Klar, ein gefrorenes Embryo. Dann erklärt er, wie er statt der Endpose mal einfach weiterdrehte. Und da ein Strudel neben der Zentrifugalkraft auch einen senkrechten Sog entwickelt, so kann die Kraft des Backspins bei genügend Schwung zwar nicht in die Tiefe, aber in die Höhe entweichen. Über die Schulter und unterstützt von den Unterarmen hievt der Junge sich kurzerhand in den Kopfstand. Style Wars wurde 1982 auf New Yorker Fernsehsendern ausgesstrahlt. Da sie nebst diesen Strassenkindern auch von Graffiti-Sprayern so sympathisch kündete, blieb diese erste Ausstrahlung in New York auch die letzte. Die Jagd auf die Sprüher wurde des Bürgermeisters Ehrensache. Dafür wurde man in Europa empfänglich. Anfang 1984 sendete das deutschsprachige Fernsehen Style Wars, was zur Einladung der betroffenen B-Boys Dynamic Rockers führte - ins Aktuelle Sportstudio. Denn zur Kunst gekürt war Breakdance noch lange nicht. Filme wie Wild Style oder Beat Style wurden zu Kultfilmen, besonders im Osten, wo der Nachrichtendienst nach anfänglicher Skepsis bald die Kapitalismuskritik des Ghettos roch und ihrer Arbeiterklasse schmackhaft machte. Manche B-Boys dort zehrten ein Dutzend mal, nährten die mitzuckenden Beine und sprachen dazu die Reime. Eine wahre Welle erfasste Europa.

Eins neun acht drei (1983)/
seit dem bin ich dabei/
früher war Breakdance mehr als Poserei/
damals noch in Strassen zu sehen/
B-Girls & Boys die gaben zu verstehen/
jetzt wird sich’s nur um`s Tanzen drehn!

So skandiert Storm, der grosse deutsche Breaker der ersten Generation, rückblickend.
Noch ein Jahr früher, bevor das erste bewegte Bild aus Übersee eintraf, hatte sich in Zürich eine kleine Szene gebildet, als die lokale Tanzschule Jazzeria in New York ein Wettbewerb ausschrieb und der erste Preis die Lehrtätigkeit an der Jazzeria war.
In Frankreich starte Hip Hop erst auf Radio7, 1984 schlug die Reihe Hip Hop auf TF1 mit den Paris City Breakeurs Tanzgruppe ein und in den Banlieus fieberte man den Rhythmus. Ähnlich in den englischen Arbeiterstädten Nottingham und Manchester oder dem ehemaligen Sklavenumschlagsplatz Bristol. Doch als Breakdance in England die High Society in der Royal Variety Show unterhielt, in Deutschland die Chips kauenden Fernsehzuschauer in “Breakdance - mach mit, bleib fit” anregen sollte, ist die Welle übergeschwappt und entliess die B-Boys wieder in den Untergrund. Das Interesse flaute ab, Breakdance hatte medial ausgedient. Die Pariser B-Boys wurden 1985 in der Metro gefragt, ob sie denn gerade dem Museum entkamen. Viele gaben hier auf. Die Hartgesottenen übten aber unbeirrt weiter, durchquerten Länder (das Tramperticket kam auf), um auf kaum angekündeten Jams aufzukreuzen. Die Gesichter kannte man langsam, die frisch erfundenen Tricks aber noch nicht. Die Stimmung war cool, und man tauschte die letzten Erfindungen aus. Klauen gilt nicht, man tanzte hier sowieso um Respekt und Ruf.

Breakdance heute
Seit in den 90ern die Jams sich zunehmender Beliebtheit erfreuen und zu Battle-of-the-Year oder Wettbewerbe auswuchsen, geht es nur noch um’s Gewinnen oder Verlieren. Die Zuschauer sind hinter Videokameras verschanzt und statt zuckender Beine geht nur ihr Daumen hoch oder runter. Hier ist der Zeitpunkt, sich der Zwischenschritte und ihres “Flavours” wieder zu entsinnen, meint der altgesottene Breaker Storm (und mehrfacher (Welt)Meister): “Auf den Tanzmeisterschaften kann man mit den übelsten Schritten perfekt auf die Breaks kommen und keiner registriert es. Dann kommt einer mit einer Powermove-Combo und der Saal tobt”/1/. Das ist also die Kritik der Old-School-Favoriten an die New-School-Anhänger: Die Old-School-Werte sind verraten! Gewinnsucht statt Stil. Der Hip Hop der Zulu-Nation-Ideale mit dem gemeinschaftlichen und positiven Denken sei durch den Kommerz verkommen. Massenverträglich und gewaltverliebt wie der Gangsta-Rap, voll “bling-bling!” und goldkettenumhangen verderbe die New-School auf den Videoclips unsere Jugend.
Und wenn da was dran wär’? Es liegt an der Hip-Hop-Generation von heute die Video-Clips-Ethik und -Ästhetik Lügen zu strafen.
Capoeira und Breakdance: Die Strasse als (Tanz)raum für Arme und spontaner Versammlungsort machte den Tanz gesellig, aber auch wehrhaft, ein Zufall?

/1/ Niels Robitzky, Von Swipe zu Storm . Breakdance in Deutschland,2000, S. 118