Donnerstag, 15. November 2007

Drei Choreographen und ihre Tradition

(erschienen in ensuite: Nr. 59 November 2007, S. 6-7)

Bald präsentieren drei Choreographen von unterschiedlichen Landstrichen ihre Werke in der Schweiz: Hans van Manen, Doug Varone und Cathy Marston. Die Verschiedenheit ihrer Stile hat mit der Tradition zu tun, aus der sie stammen. Ihre Stile sind dechiffrierbar. Vor dem Hintergrund der Entwicklung des modernen Tanzes (siehe Oktober-Ausgabe, Teil 1 Die Anfänge des Modern Dance) verstehen wir die Unterschiede.

Parallelentwicklung im 20. Jahrhundert

Im 1. Teil der Serie über die Entwicklung des Modern Dance sahen wir, wie zwei Stränge parallel den Tanz des 20. Jahrhunderts formten. Die Ballets Russes machten den Tanz populär und erhoben ihn mit der ausgefeiltesten Technik der Zeit in den Rang angesehener Kunstsparten wie Musik und bildende Kunst. Was die Qualität und die Modernität der Choreographen angeht, steht offen, ob diese den an den Ballets Russes beteiligten Künstlern Picasso und Strawinskij das Wasser reichen vermochten. Man kann sich fragen, ob die Choreographen nicht vielmehr Musik und Dekor zu füllen hatten und ihrem Impresario Diaghilev, der vormals Bilderausstellungen vorführte, diese nun theatralisch ausschmückten.
Der zweite Strang, der den Tanz im 20. Jahrhunderte bildete, bestand aus Erben des freien Tanzes. Der barfüssige freie Tanz spross an verschiedenen Stellen aus dem Boden, fand aber in Zentren wie dem Monte Verita oder dem Dalcroze-Institut in Hellerau bei Dresden viele Anhänger. Isadora Duncan und Mary Wigman waren darunter. Eine weitere nennenswerte Tänzerin aus dem Kreis wäre Marie Rambert. Erben dieses freien Tanzes, die in seinem Geist aufwuchsen, aber zunehmend anspruchsvoller wurden, begründeten den Modern Dance und hiessen Martha Graham und Doris Humphrey.

Unglückliche Verknüpfungspunkte

In der Ästhetik der beiden Strömungen findet man kaum Gemeinsamkeiten, ausser der Verwendung zeitgenössischer Musik etwa. Eine herausragende Ausnahme bildet der Tänzer und Choreograph Waslav Nijinskij. Die kantige und erdige Choreographie seines Sacre du Printemps bewerten manche Geschichtsschreiber als seiner Zeit voraus. Doch vielleicht gibt es eine andere Erklärung. Nijinskij, ohne nennenswerte musikalische Ausbildung, war mit den wechselnden Taktarten, die in Strawinskis Musik teilweise simultan vorkamen, überfordert. Diaghilev stellte ihm Marie Rambert aus dem Dalcroze-Institut an die Seite und sie assistierte Nijinskij 1913. Statt seiner Zeit voraus war Nijinskij vielleicht einfach empfänglich für sein Umfeld und den neuen Tanz seiner Zeit. Als Nijinski durch seine Heirat bei Diaghilev in Ungnade fiel und die Ballets Russes verliess, wurden seine bei Tänzern wie Publikum unbeliebten Stücke abgesetzt.
Einen zweiten Verknüpfungspunkt gab es im Jahr 1929. Wie in der 1. Folge erwähnt, zerfielen die Ballets Russes mit dem Tod Diaghilews in 1929 und ihre Choreographen und Tänzer waren in den Metropolen umworben, an königlichen Theaterhäusern hofiert. So wurde 1929 Leonide Massine, Nijinskis Nachfolger, nach New York geladen, um seine Version des Sacre du printemps zu zeigen. Der Dirigent der MET, Leopold Stokowski, verpflichtete Martha Graham für die Hauptrolle. Massine plagte sich viel mit ihr herum. Auch Martha Graham fand ihn alles andere als inspirierend.
Die verzweifelten Wiederbelebungsversuche der ehedem erfolgreichen Ballets-Russes-Tourneen, kommentierte Louis Horst, der Mentor Martha Grahams, wortkarg mit "démodé". Der einflussreiche Amerikaner Lincoln Kirstein war anderer Meinung und beauftragte George Balanchine, den letzten Ballets Russes-Choreographen, das American Ballet zu bilden. Sein Neoklassizismus formte das Tanz-Image der MET über ein halbes Jahrhundert. Geteilt war auch die Presse. Dance Magazine berichtete nur über klassischen Tanz, Dance Observer wurde zum Sprachrohr des Modern Dance.

Drei Choreographen von heute wurden nach ihrer Tradition befragt und waren bereit, ihre Wurzeln aufzudecken:

Hans van Manen

Der berühmte holländische Choreograph Hans van Manen feiert dieses Jahr seinen 75. Geburtstag. Mehrere europäische Hauptstädte versäumen nicht, ihm zu huldigen. Ab dem 27. Oktober ist sein Stück Concertante (1994) in Bern zu sehen.
Hans van Manen wurde nur im klassischen Tanz geschult. Seine Lehrer standen in direktem Bezug zu Tänzern und Choreographen der Ballets Russes, die sich in Paris niederliessen. So nimmt es nicht Wunder, wenn sein Choreographiestil sich früh auf Balanchine hin ausrichtete. "Er war immer mein grosses Vorbild gewesen". Doch auf die Frage nach der Tradition, in der van Manens Frühphase gebettet ist, präzisiert er, dass in den 60ern neben Balanchine auch Martha Graham und Merce Cunningham nach Amsterdam kamen. Beide schätzte er sehr. Und gleich fällt ihm ein: "Ich sah den wunderbaren bodenlangen Priesterrock Martha Grahams. Sofort fragte ich eine amerikanische Tänzerin, wie er geschnitten war. Ich brauchte für meine Grosse Fuge einen, der flatterte und die aggressiven Männerschritte betonte." Wahr ist, dass er in der Grossen Fuge den Grahm'schen Backfall eingebaut hat. Das ist eine Kontraktion im Rücken, welche aus dem Stand nach hinten in einen kontrollierten Fall führt und auf dem Boden sich rücklings erstreckt. In einem Stück, das die kraftvolle Dynamik des Vertikalen und Aufrechten betont, ist der Boden ein willkommener Kontrapunkt. Das Berner Publikum hat das markante Stück seit 1998 noch sicher in Erinnerung. Das Züricher Publikum dank Spoerli seit 2001. Ob von amerikanischen Gastspielen beeindruckt oder "aus zweiter Hand" über seinen amerikanischen Partner in der Direktion des NDT (Nederlands Danse Theater) Glen Tetley, fest steht: es spricht für Hans Manen, wenn er sich von unterschiedlichsten Quellen inspirieren und sie organisch in seinen Stil einfliessen lässt. So überwindet er alsbald seine neoklassischen Anfänge. "Die Bodenarbeit wurde mir wichtig und sie reformierte das Ballett", resümiert er.
Hans van Manen ist auch für seine Musikalität berühmt. Angesichts der Bemühungen der Pioniere des modernen Tanzes, die Unabhängigkeit des Tanzes von der Musik zu eruieren, indem sie ohne Musikbegleitung den Rhythmus durch den hörbaren Atem und Schritt kreierten, was ist für Hans van Manen Musikalität? "Auch ich habe meine Tänzerin auf ihre über Lautsprecher verstärkten Herzschläge tanzen lassen. Ich sehe aber eine Tendenz, sich erneut der Musik zuzuwenden und eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit ihr zu wagen. Concertante ist musikalisch höchst anspruchsvoll. Musikalität bedeutet für mich: die Musik sehen und den Tanz hören".

Doug Varone, Choreograph in der Humphrey-Tradition

Der Amerikaner Doug Varone betrachtet sich als Choreograph aus der Humphrey-Linie in der 4. Generation. Wir werden in der kommenden Folge über den Modern Dance sehen, wie Martha Grahams Mitstreiterin Doris Humphrey ihre Tänzer von Anbeginn zum Choreographieren bewog und darin ausbildete. So den talentierten José Limon.
Doug Varone hatte verschiedene Tanzstile versucht, bevor er denjenigen Limons kennenlernte. Aber nur dieser Stil war es, der sich an seinem Körper sofort heimisch anfühlte. So beschloss er, sich in dessen Technik schulen zu lassen und wurde nahtlos in die Limon-Companie übernommen. Limon war da schon 6 Jahre tot.
"Wir stammen aus der Tradition, zu der wir uns urspünglich hingezogen fühlten". Doch die Tradition besteht nicht nur in der Verinnerlichung eines Stils und seiner Technik. Die Auffassung dahinter gehört dazu. "Zu Beginn meiner Tänzerkarriere in den 70ern gab es gehörige Unterschiede, wie Tänzer auf der Bühne präsentiert wurden. Limon zeigte Menschen als enorm verletzliche Wesen in einer Gemeinschaft. Diese Humanität im Werk schätzte ich sehr."
Die grossen Fragen stellten aber schon die Pioniere des Modern Dance. Limon stand da selbst schon in einer Tradition. Wenn die New York Times schreibt, es gäbe eine Wiederentdeckung des Limon, was ist damit gemeint? Doug Varone sieht zum jetzigen geschichtlichen Zeitpunkt, vor Augen führend, wie Amerika seit 10 Jahren regiert wird, ein Bedürfnis der Künstler, wieder etwas Bedeutungsvolles zu sagen. Und zwar von einem sehr menschlichen Standpunkt aus. Heraus kommen Geschichten, die alles andere als narrativ sind. Abstraktion, und Verspieltheit sind beiseitegeschoben, "vielleicht ist die Postmoderne passé", und er bricht in ein ansteckendes Gelächter aus.
Das in Bern zu sehende Stück Of the Earth Far Below hatte Doug Varone 2003 in New York live mit Steve Reich aufgeführt. Doug Varones Companie konnten die Schweizer 2002 im Rahmen der Steps#8 kennenlernen. Sie liessen sich überzeugen und spendeten lautstarken Beifall.

Cathy Marston

Zürich und Bern konnten die Engländerin Cathy Marston in den 90ern als Tänzerin schätzen lernen. Heute ist sie Ballettchefin in Bern. Ihre Traditionslinie führt nicht wie die van Manens oder Varones geradewegs zu ihren Wurzeln. "Sie ist ein wenig zirkulär" meint sie und lächelt. Cathy Marston wurde an der renommierten klassisch geprägten Royal Ballet School ausgebildet. Doch es standen ihr zwei Choreographielehrer zur Seite, die ihre choreographische Frühreife förderten - und sie mit der Rambert-Linie infiltrierten. Marie Rambert, die Verfechterin des freien Tanzes bildete sich nach ihrer kurzen Zusammenarbeit mit Nijinskij noch fort und gründete in London in den 20ern eine Schule. Innerhalb Englands ist diese noch heute die Adresse für eine Ausbildung in modernem und zeitgenössischen Tanz.
Als Cathy Marston 1994 in Zürich in die Compagnie eintrat, schlug just van Manens Concertante sie in Bann. Die "Holländer", neben van Manen auch Jiri Kilian, waren in England nicht bekannt, gestand sie. Auch Mats Ek, wurde ihr in London nur auf einem Video vorgeführt. Zürich bot ihr mit diesen Gastchoreographen eine wahre Erleuchtung. Als sie nach Luzern wechselte und auf den Engländer Richard Wherlock als Direktor traf, schloss sich der Kreis: der ehemalige Rambert-Schüler und -Tänzer benützte Bewegungen, die "schon in meinem Blut zirkulierten", verrät Cathy Marston. Mit dem anstehenden "Feuervogel" scheint sie aber wieder an die Tradition des Royal Ballet anzuknüpfen. Denn dort wurden narrative abendfüllende Tänze ohne Unterbrechung kultiviert. Statt Kreise, also eher Schlaufen...

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