Sonntag, 15. Februar 2009

Ausblick Februar 2009

erschienen in Ensuite Nr. 74 S. 10:

Zürich
Im Theater Gessnerallee gibt es etwas Besonderes: Die kreative und schräge Companie Les Ballets C de la B wird eine Uraufführung präsentieren. Die talentierten Tänzer wurden mit Stücken von Sidi Larbi Cherkaoui und Alain Plates berühmt. Ihre Themen loten oft Gefühle aus, die Formen sprengen. Seien sie religiös, tranceähnlich oder die von Behinderten. Zum Choreographenkollektiv gehört seit 1997 auch der Tänzer Koen Augustijnen, der dem Züricher Publikum Ashes präsentiert, bevor er damit durch Europa zieht.
Ort: Theaterhaus Gessnerallee, Gessnerallee 8, Zürich 041/44 225 81 10
Datum: 19.-22. Februar 20 Uhr


Bern
Freie Szene
Ein gutes Konzept bietet die Dampfzentrale mit Heimspiel. Einerseits kann die lokale Tanzszene in professionellem Rahmen ihre Kreativität an den Mann bringen, andererseits wird sie “national vernetzt”. Wie? Indem pro Abend auch eine auswärtige Gruppe spielt, dessen Theater die Berner im Gegenzug einladen wird. Beim Publikumsgespräch im Anschluss soll eines keine Rolle spielen: der Heimvorteil.
Ort: Dampfzentrale Bern Marzilistr. 47, 031/ 310 05 40, www.dampfzentrale.ch
Zeit: 7. Februar - 14. März

Stadttheater
Einen zweiteiligen Abend bietet das Stadttheater mit der neuen Produktion Such stuff that dreams are made on (vgl. Besprechung in diesem Heft)
Ort: Vidmar Hallen , Könizstrasse 161 Bern 031 311 95 65Datum: 6., 7., 18. Februar 19.30 Uhr, 15. Februar 18 Uhr

Basel
Rolling Steps ist ein interessanter Abend mit drei Choreographen: Jorma Elo ist ein Finne, der die klassische Technik humorvoll fetzen lässt, Claude Brumachon wird asketische Stille explodieren lassen, und die Coryphäe Christopher Bruce von der Rambert Company hat eine ganze Tänzergeneration mit seinem rund-geschwungenen Modern-Stil geprägt.
Ort: Theater Basel Theaterplatz 061 295 11 33
Datum: 14., 18., 28. Februar 20 Uhr, 8. Februar 15 Uhr.

Drei Tanzstädte im Wandel


erschienen in Ensuite nr. 74, S. 8-10:

Gegenwärtig erleben drei Schweizer Städte einen Wandel in ihrer Tanzsparte: Lausanne, Luzern und Bern. Ensuite betrachtet sie näher.

I. Wandel ohne Wende?
Der Stadt Lausanne stand ein erzwungener Wandel bevor, als im November 2007 der ruhmreiche Meister Béjart verschied. Der Wandel war absehbar, auch für den Betroffenen. So hatte Béjart für einen Wandel ohne Wende vorgesorgt. Eine Stiftung sollte über seine Aufführungsrechte wachen. Die Companie Béjart Ballet Lausanne, kurz BBL, sollte das bevorzugte Instrument zum Erhalt seines künstlerischen Erbes bleiben. Damit dies stimmig abläuft, ist der Präsident des einen der künstlerische Direktor des anderen. Die Kontinuität währt auch finanziell: Drei Jahre währte noch der Finanzierungsvertrag zwischen Stadt und Companie nach Béjarts Tod. Nun ist er gar verlängert. Die künstlerische Kontinuität (wohl ein Widerspruch in sich) war auch vorbereitet: Béjart sicherte sich den langjährigen Solisten Gil Roman erst als Assistent, dan
n Vize-Direktor und schliesslich als nachfolgenden künstlerischen Direktor. Ein Jahr vor dem Tod verfasste Béjart einen innigen Empfehlungsbrief, der nun auf der Homepage der BBL unter Gil Roman prangt: "[...] Dreimal musste ich ihn vor die Tür setzen. Dreimal innerhalb acht Jahre, und jedes Mal habe ich ihn innert weniger Wochen wieder hereingeholt. Langsam verstand ich [...] wie nah er mir war. Nein... er war ich". Wenn die Solistin Elisabeth Ros am Vorabend der Premiere des Stücks Tour du monde en 80 minutes dem Fernsehkanal TSR kundgab, Gil wäre ähnlich fordernd wie sein Meister, ja noch anspruchsvoller, so traf sie wohl einen wunden Punkt. Drei Monate darauf werden drei Tänzer ihren Hut nehmen und Gil wegen psychischer Gewalt und moralischer Nötigung verklagen. Eine Untersuchung wird eingeleitet, und die Genfer Presse verkündet im November: “Gil Roman blanchi!", reingewaschen. Selbst Le Monde berichtete. Eine ähnliche Härte im Umgang hätten die Tänzer zuvor einem Béjart vergeben, erklärte dazu Béjarts Stiftungsrat gegenüber Le Temps. Der Kulturredakteur von Le Temps, übrigens mit dem Tanzkritiker-Preis ausgezeichnet, meinte wie zur Replik: Die Premiere im Dezember werde der Test sein. Nicht, dass es nach dem Tod Béjarts keine Premiere gegeben hätte. Gleich 30 Tage nach dem Tod wurde Tour du monde en 80 minutes präsentiert. Gil, schon immer die rechte Hand des Meisters, konnte das halbfertige Stück so vervollständigen, dass niemand merkte, wo die Hand Béjarts fehlte. Eine schweizer Kritikerin nannte das Stück "Resteverwertung". Das war konzeptuell vom Meister so angelegt. Die Highlights seines Oeuvres hatte er selbst bereits 2005 in L'amour, la
dance recycliert. Was also dem BBL fehlt, ist eine Premiere, die Neues zeigt und von Öffnung zeugt. Denn was die weitere Entwicklung des BBL angeht, da sind sich alle einig: ein Mausoleum soll das BBL nicht werden. Schauen wir uns also den Testfall an.
Der Testfall. Im Dezember kündete eine gross angelegte Werbekampagne von “3 Choreographen und 3 Gästen”. Zwei Gäste davon sind die vielleicht berühmtesten überhaupt: Ana Laguna, Solistin und Partnerin des wegweisenden Mats Ek, und Mikhail Baryschnikov. Doch die Gastchoreographen und Stars mischten sich nicht mit der Companie. Säuberlich geschieden zeigten sie nur solistischen Paartanz. So aber profitiert das BBL keine Elle. Doch vielleicht sein Ruf? Leider auch der nicht. Das Ereignis scheint schlicht totgeschwiegen. Der geladene Repräsentant des deutschen Tanznetzes hat nichts zu sagen, nicht die Fachzeitschrift Ballett-Tanz, und kaum die heimische Presse.
Was ist passiert an den schon seit langem ausverkauften zwei Abenden? Kein Skandal. Der Applaus bestätigte, dass das Publikum durchaus auf seine Kosten kam. Doch dessen bedienter Geschmack ist der eigentliche Skandal. Betrachten wir Gil Romans neues Stück Aria.
Das rote Cocktailkleidchen um den Ohren torkelt Julio Arozarena liebestrunken auf die Bühne. Er ist buchstäblich der Dame seines Herzens und ihrem Duft erlegen. Er lässt sich zu Boden, schleppt sich auf allen Vieren über den roten Stoff, um sich sinnlich darob zu ergehen. In Aria wird Erotik verhandelt, aber vor allem das Publikum verführt. Die Männer tanzen vorzugsweise mit nackter Brust, die Frauen staksen langbeinig daher und setzen Akzente mit ihren Hüften. Das könnte ja ein sinnlich angenehmer Abend werden, doch Gil möchte Kunst präsentieren. Er hat sich dazu manche Kunstgriffe vom Meister angeeignet. E
ffektvoll hängen gleich zu Beginn drei rotlackierte Schaukeln mit drei bezaubernden Damen. Ihre Beine sind keck übereinandergeschlagen. Die Füsschen sind angespitzt und kein Mensch erwartet, daß daraus Bewegung entstehe. Dafür bewegt uns sogleich die Goldberg-Variation in Glenn Goulds Einspielung. (Play-Back zu den Tasten-Scheinübungen eines Tänzers in Pianistenpose). Wenn die Damen, "Les Ariane" (sic!) laut Programmheft, von der Schaukel gleiten, sich stelzend nebeneinander positionieren und synchron die Rhythmen Bachs zur metrischen Unterlage ihrer Neoklassik-Variationen reduzieren, warten wir nur darauf, von der passenderen Musik Nine-Inch-Nails erlöst zu werden. Von den allgegenwärtigen Hüftakzenten abgesehen ist choreographisch keine Handschrift abzulesen. Schon gar keine einheitliche.
Bis auf wenige Ausnahmen in natürlichem Pastell und organisch-ursprünglichem Tanz dient das Ensemble der Glanzästhetik, darf um die Solisten kreisen und ihren Scheinwerferkegel säumen. Am Schluss (leider wieder auf Bach), liegt es am Boden darnieder. Bedeutsam senkt sich dann eine dicke rote Kordel, dessen ausfransende Enden jeder ergreift: das Béjart-Ballet zieht am selben Strang.

Die Kritik des Le Temps schwärmt aber von einer anderen Geste. Da sie Aria gar nicht erwähnt, stammt sie aus dem einzig gelungenen Kontrastprogramm von Mats Ek (davon mehr in Ensuite
Nr. 76 Alter im Tanz). Auch dort lugt sie nur als “Geheimnis” unter dem Teppich hervor: “die Geste der Revolte und des
Unvorhersehbaren”. Wessen Revolte ist mit diesen Schlussworten der Kritik wohl geheimnisvoll gemeint?


II. Wandel zur Wandlungsfähigkeit
Luzern hat ab kommende Spielzeit eine neue Ballettdirektorin. Der Schweizer Dominique Mentha, Intendant seit 2004, hatte wohl mit der Wahl des ambitionierten Profis Kathleen McNurney, derzeit Ballettmeisterin in Basel, eine glückliche Hand. Das hat er nötig, denn Luzern baut aus und möchte Qualität steigern. Ein grosser modulierbarer Saal soll entstehen, den das Lucerne-Festival und Theater gleichermassen nutzen und vor allem füllen wollen. Modulierbar ist dabei die räumliche Anordnung der Bühne zum
Zuschauer. Die Module überwinden die starre Enge der Guckkastenform. Mit der künftigen Direktorin sprach Ensuite.
Ensuite: Kathleen McNurney, warum ist die Wahl auf Sie gefallen?
K.McN:Ich weiss es nicht wirklich. Wohl wegen meines Tanzhintergrundes. Ich ta
nzte u.a. bei Spoerli, assistierte Richard Wherlock erst in Luzern, dann in Basel, dazwischen war ich Ballettmeisterin und Assistentin bei Spoerli.
Ensuite: Was ist Ihre Stärke?
K.McN: Ich bin, das war von Anfang an klar, kein Choreograph. Ich arbeitete mit den verschiedensten Choreographen zusammen, von zeitgenössischen bis hin zu einem Hans van Manen. Das ist ein sehr weites Spektrum. 'My vision is quite open'. Meine stilistische Schulung der Tänzer ebenfalls. Das mag wohl ein Grund sein.
Ensuite: Dann nenne ich Ihre drei Vorzüge: Sie stehen erstens bei der Auswahl der Choreographen für Qualität. Dann sind Sie die bewährte rechte Hand für jeden Gastchoreographen und können drittens die Stücke auf hohem Niveau im Repertoir halten.
K.McN: Das stimmt. Ich habe mir dabei eine Priorität gesetzt. Das erste Jahr werde ich die Companie aufbauen. Ich werde ihr zu einer unverwechselbaren 'Handschrift' verhelfen. Ich bin ein leidenschaftlicher Pädagoge, vermittle und fördere gern.
Ensuite: ... und was ist diese 'Handschrift'?
K.McN: Das ist eine gute Frage! Ich trainiere das Ensemble im klassischen Ballett. Aber natürlich nicht stilistisch wie Petersburg oder das Royal Ballett. Viele europäische Hauptstädte bewerkstelligen eine
neutrale Ausbildung, die Wege zur Interpretation zeitgenössischen Tanzes offenhält. Auch bei mir sollen die Tänzer gestreckte Arabesquen und Füsse in jeder Lage hinbekommen. Und dennoch: die Technik muss sie gleichzeitig für zeitgenössisch ausgeprägte Bodenarbeit befähigen.
Ensuite: Die Leitung des Luzerner Theaters setzt wohl auch auf Ihre guten Beziehungen. Werden die Namhaften unter Ihren Bekannten den Weg nach Luzern finden?
K.McN. (lacht): Ich frage sie zuerst einmal gar nicht. Ein Jahr wird gründlich aufgebaut. Dann aber.., der Gedanke reizt mich schon jetzt. Es ist sehr verlockend, die talentierten Leute, mit denen ich zu tun hatte, anrufen zu dürfen und zu sagen: "Voilà, hier gibt es eine wunderbare Gelegenheit: möchtest Du ein Stück für uns schaffen?" Wie die erste Spielzeit aussieht, steht noch nicht fest; ich muss erst die Companie zusammenstellen. Die ersten Stücke werden für die Tänzer massgeschneidert, 'auf ihren Leib zugeschnitten' sein. Später kann ich fertige Stücke wie von der Stange abhängen und kaufen. Das kann dann ein Markenartikel sein, selbst Haute Couture eines Jiri Kylian oder dem jüngst in Basel geladenen Jorma Elo.
Ensuite: Haben Sie Luzerns Schicksal die Jahre über verfolgt?
K.McN.: Oh ja. Nach der spannenden Zeit von 1996-99 kam ein Intendant, der die Tanzsparte kurzerhand auflöste. Über das Ergebnis bin ich aber zwiespältig: Jede Auflösung ist bedauerlich. Andererseits wurde es auch spannend. Natürlich genoss jeder Zuschauer Gasttruppen der Superlative wie die Merce Cunningham Company. Doch das Jahr hindurch gab es keine Kontinuität. Die Stadt und ihre Bewohner konnten nicht ein Verhältnis zur Tanzsparte aufbauen, ihre Entwicklung verfolgen. Ich war sehr froh, dass der neue Intendant, Dominique Mentha, 2004 wieder ein Ensemble aufbaute. Ein Gasttheater kann zwar interessant sein, bin aber nicht sicher, ob Luzern dafür der richtige Platz ist.
Ensuite: Ist die Entscheidung für ein Ensemble eine für die Entwicklung einer Tradition, eines Profils,
das man mit dem Namen Luzern verbinden kann, über Grenzen hinweg?
K.McN.: Wichtiger ist die Motivation vor Ort. Mit dem eigenen Ensemble kann sich eine Stadt identifizieren. Die Tänzer gehen tagein tagaus durch dieselbe Stadt wie ihr Publikum und kreuzen ihre Wege. Solche Kontakte sind für beide Seiten spannend. Wenn dieselben Tänzer vielfältig eingesetzt werden und der Zuschauer ihn mal poetisch, ein andermal richtig atlethisch erleben kann, dann wird es zu überraschenden Ausrufen auf der Strasse kommen: "Deine letzte Rolle war überwältigend!" Der Zuschauer wird die Vielseitigkeit verfolgen wollen.
Ensuite: Das wäre ja schon Teil einer ästhetischen Schulung des Publikums. Sind Sie auf diesem Gebiet auch gefordert?
K.McN.: Ja, das entspricht ganz meinem Wunsch. Es wird vor den Vorführungen Gespräche geben. Wir wollen mit offenen Proben für das Publikum zugänglich sein und eine enge Beziehung knüpfen.
Der Intendant führt uns den Punkt noch aus. Die Jugend soll zum Mitmachen angeleitet werden. In Zusammenarbeit mit den Schulen lernen sie dabei neben Rollen auch Marketing und Theaterkritik… Sein Theater soll vermehrt ein “Entdeckungstheater” werden. Unbekannte junge Choreographentalente sollen aufgespürt werden. Profilfähigkeit hatte die Tanzsparte mit dem Tanztheater der Verena Weiss die letzten vier Jahre schon bewiesen. Nun gibts den Wandel zum permanenten Wechsel: Wandlungsfähigkeit als Konzept.


III. Wandel wörtlich
Seit dem Direktionswechsel letzte Spielzeit hat sich das Berner Theater mit seiner Ballettchefin profiliert: Cathy Marston hat eine Leidenschaft für literarische Themen. In welcher Form sie über die Bühne gehen, ist dann aber unterschiedlich. Die erste Berner Premiere war die ausbuchstabierte Geschichte der Zarenfamilie. Die präzis geführte Narration, die jede Geste festschrieb, befremdete viele. Das royalistische Dekor und die üppigen Kostüme verdeckten, was die Choreographie an Modernität bergen mochte. In ihrem zweiten Berner Stück suchte die Chefin etwas auf den Geschmack des Publikums einzugehen. Through your Eyes nahm die literarische Vorlage, den Briefwechsel der Dichter Tom Hughes and Sylvia Plath nicht mehr wörtlich. Das Dichterpaar ward in mehrere Paare gespalten, damit sie biographischen Zeitabschnitten entsprachen. Der Entschluss, sie dann synchron zu präsentieren, verwirrte dann doch. Zudem sie für die einzelnen Stadien des Dichterpaars nicht deutlich genug eine je distinkte Bewegungssprache entwickelte. Im ausgesprochen durchmischten vierteiligen Ballettabend ging die literarische Finesse unter. Es scheint, die formal experimentierlustige Jugend der aufstrebenden Gastchoreographen stahl der Chefin die Show. Überzeugend dagegen war ein abendfüllendes Stück von Cathy Marston, das schon auf der kleinen Bühne des Londoner Royal Opera House geisterte: Die Gespenster. Es war, kompliziert genug, auf die Abfolge der Ereignisse des Dramas von Ibsen reduziert. Das Stück war aber vor allem stilistisch spannend. Das Bühnenbild bot den Innenraum verzerrt, wie die kranken Seelen, wenn sie die glatten Oberflächen des gewahrten Scheins durchbrechen. Die Choreographin schuf ein expressives Tanzstück, das der psychologischen Tücke der Ibsen-Figuren gewachsen war. Obschon das reichliche Schrittmaterial nicht immer der Relevanz diente.
Es steht nun die zweite Kostprobe aus den Werken made in London an (dessen englischen Titel
wir gleich mitgeniessen dürfen): „before the tempest … after the storm“. Hier wird Shakespeares Der Sturm mit W.H. Audens fortführender Dichtung „The Sea and the Mirror“ gekreuzt. Kein Wunder, wirbt diesen Monat das deutsche Ballett-Tanz-Journal mit ‘kluge Cathy’.
Botelhos neues Stück.

Entspannt zurücklehnen kann sich der Zuschauer dann in der zweiten Hälfte des neuen Ballettabends. Der Schweizer Tanz- und Choreographiepreisträger Guilherme Botelho möchte den Betrachter in einen kontemplativen Sog ziehen. Das gelingt ihm auch, wenn man, wie bei allen tranceähnlichen Zuständen, gewillt ist, sich darauf einzulassen. Die ersten zwanzig Minuten ziehen Vierbeiner über die Bühne. Sie krabbeln, robben und rollen, dass man oft nicht weiss, wo bei ihnen oben und unten, vorne und hinten ist. Wenn eine Horde auf ihren langgliedrigen Vieren sich rhotierend fortbewegt, mag das dann auch egal sein. Nur eines ist klar: wohin es geht. Die eine Seitengasse saugt das unzählige Geziefer auf, ohne ihm damit ein Ende zu bereiten. Es folgen ihm weitere Exemplare auf dem Fuss. Die Vielfalt fasziniert. Allmählich, wie das Licht von Dämmerung zum Tageslicht wechselt, so unmerklich entfaltet sich die Gattung zum homo erectus. Jede Spezies hat eines gemeinsam: das Ziel. Keiner weiss, ob jemand weiss, was das Ziel eigentlich ist. Ist es ein angeborener Drang, selbstgesetzt oder nur ein sozialer Druck? Es gibt Momente der Umkehr, Momente des Kontakts. Doch Vorankommen ist alles. Daher auch der anschauliche Titel: ein Pfeilsymbol. Die kosmisch-suggestive Musik schwillt an. Der Rhythmus zieht an. Und schliesslich drängt ein unerbittliches Pulsieren wie aus unserem eigenen drängenden Alltag.
"Ja, es ist offen, was der Sog tatsächlich ist. Es kann auch schlicht das Schicksal sein, wie Shakespeare es in seinen Dramen behandelt," meint Botelho. Ist der Sog etwas objektives oder nur subjektiver, gar kollektiver Eindruck, - der, fast unheimlich, auch uns befällt? Gleichzeitig werden wir uns als Zuschauer gewahr, wie wir nur Ausschnitte aus dem Lebensfluss dieser Wesen mitbekommen. Solche fragmentierte und vorüberhuschende Eindrücke sind uns aus dem Alltag vertraut. Und sie häufen sich, seit die zunehmende Geschwindigkeit uns zunehmend mobil macht. Hier wachsen die Eindrucksfetzen zu einem Strom zusammen. Botelho verrät der Ensuite schliesslich, wie er die Tänzer aus ihrer ästhetischen Reserve lockte: "Ich sagte den Tänzern sofort zu Beginn: ‘Ich möchte nicht, dass Ihr denkt, Ihr sollt tanzen. Lasst uns ein plastisches Bild kreieren, eine Installation!’" Nun, das wird die bewegteste Installation sein, die Sie je gesehen haben.

Montag, 9. Februar 2009

Tanzkritik als Analyse


Ist der Tanz für uns Zuschauer gemacht, so muss er uns faszinieren. Er bedient sich der Atmosphäre, Formen und Ideen. Je mehr wir an ihm verstehen, desto reflektierter können wir die Faszination auskosten.

Tanz kann sich wie jedes Kunstwerk entscheiden, Ausdruck, Form oder mehr oder weniger fassbare Ideen zu betonen. Welche dieser Elemente drängen sich auf? Und wie stehen sie zueinander? Erleben wir eine sinnliche Gefühlsstudie, ein kühles Formenspiel oder vermittelt man uns Inhalte? Oder verflechtet das Werk die Elemente? Und welches Element dient dann welchem?

Die Tanzkritik hat eine solche Analyse zu leisten.

Angemessene Deskription. Sie soll die Atmosphäre und Gefühle einfangen, die prägnanten Formen nachzeichnen, mögliche Inhalte ausbreiten. Der Sog des Stückes soll den Leser erreichen.

Signum/Stil. Sie soll die Besonderheiten beschreiben, die sich am Werk herauskristallisieren und von einem künstlerischen Signum zeugen.

Fachliche Details. Wie genau ist die Besonderheit bewerkstelligt? Die Tanzkritik hat über relevante technische Details Aufschluss zu geben. Die Wirkung der Besonderheit soll aufgeschlüsselt werden. Was am Material ruft die psychische Wirkung - emotional, optisch oder kognitiv - in uns hervor?

Kontextanalyse. Das Tanzstück ist ein Kind seiner Zeit. Es trägt seine Zeichen. Es hat Vorgänger, an die es zu messen ist und von denen es sich absetzt. Auch Werksentstehung und -konzept können aufschlussreich sein. Manchen Künstlern sind sie wichtiger als das Produkt. Doch entgeht auch dieses Produkt nicht unserem Urteil: fasziniert uns, bei allem Wissen um die Entstehung, das getanzte Werk?

In diesem Blog finden Sie Texte, die von diesen Zielsetzungen geleitet sind: Hintergrundsstudien, Rezensionen, Interviews und Ausblicke auf ein anstehendes Tanzprogramm.

Freitag, 6. Februar 2009

Carolyn Carlson


Der Tanz macht sich rar in “Eau” 

Für Carolyn Carlson ist der Begriff “Wasser” fast unerschöpflich. Zum dritten Mal nimmt die namhafte Choreographen das Naturelement, zuletzt für die Premiere in Lille im April letzten Jahres. Sie handelt zum einen seine Erscheinungsformen ab: Quelle, tiefe stille Wasser, stürmische hohe See und verschmutztes Gewässer. Zum anderen untersucht sie seine Funktionen für den Menschen, existentielle, luxuriöse, rituelle und seine Disfunktionen wie (Öko)katastrophen. Schliesslich spürt sie der symbolischen Kraft nach, die der Mensch all diesen Erscheinungsformen beimisst. Im Stück “Eau” präsentiert Carolyn Carlson die Ergebnisse ihrer kreativen Forschung aus dem Centre Choréographique National bei Lille, das sie leitet. Natürlich nicht säuberlich geschieden. Denn dies unterliess schon der Philosophen-Dichter Gaston Bachelard, dessen Abhandlung das Wasser und die Träume für das Stück Pate stand. Die thematische Untergliederung des Stückes ist diesem Werk entnommen. So wie beim Vorbild Epistemologie und Wissenschaftstheorie, Ontologie und Poesie ineinanderfliessen, so mengt sich auch bei Carolyn Carlson jegliche Erkenntnis des kostbaren Naturelements. Wen wunderts, wenn sie zur Darstellung alles für brauchbar hält, was sich finden lässt: konkrete Alltagsgesten und Sprache wie das Tanztheater, technologische Mittel für Wasserprojektionen, poetische Bilder und – last but not least - vom Wasser inspirierte Bewegungsstudien.

Gleich zu Beginn durchmischt Carolyn Carlson sowohl Funktion und Symbolik des Wassers, als auch alle verfügbaren Stilelemente. Becher werden pantomimsch gehoben, es wird geschluckt und gesprochen. Dem Wasser als Ursprung (erstes Thema), einem Symbol, wird mit einem Symbol begegnet: eine Tänzerin, umhüllt von transparentem Plastik wie einer Fruchtblase, wird nackt aus einem Wasserbecken geborgen. Dann bekleidet. Und nun beginnt es zu ticken. Tick-Tack, ruckelnd kommt der Alltag in Gang. Zwölf graue Gestalten gesellen sich, wechseln Tische, Stühle, Posen und Frauen. Tick-Tack, die Gesten stocken, regelmässig wie der Sprung einer verkratzten Platte. Das Tick-Tack vereint die Gestalten im grauen Alltag wie  Figurinen einer aufziehbaren Spieluhr. 

In diese Alltagsmaschinerie ist das Einsickern von einem natürlichen Element erfrischend. Wie ein Rinnsal fliesst hie und da ein geschwungen-gedrehter Ablauf in Carlsons Tanztheater ein. Runde Rumpfbeugen münden aber wieder in geschnitten klare Gestik.

Das mitreissende Wasser kann sich erst im dritten Teil des Abends seinen Weg bahnen: in “L’eau violente”. In Form einer reinen Bewegungsstudie bot es einen Höhepunkt, wie dem schweizer Applaus im Théatre du Passage zu entnehmen war: die tosenden Wogen des Meeres wurden von den Männern des Ensembles verkörpert. Die hellschäumenden Wellen des düsteren Meeres der Projektion spiegelten sich in den weissen flatternden Hemden und schwarzen Hosen der Tänzer. Sie durchzogen in einem Schwung energisch die Diagonale, überschlugen sich vereinzelt in einer Bodenrolle, um sich vom andern in fliegende Höhe reissen zu lassen. Spitze Füsse stiessen durch die Lüfte, wie die Spritzer hochschnellender Wellen. Männerhebungen sind gewaltig, wenn nämlich einer seinen Partner mit Elan kopfüber an die Flanke zieht, welcher aus dem erhaltenen Schwung seine parallel gestreckten Beinen in die Höhe hisst. Kräftige Körperwellen durchziehen die Tänzer im Stand. Als der treibende tiefe Beat (vielleicht die E-Saite vom Kontrabass in Joby Talbots eigens komponiertem Orchesterwerk?) allmählich nachlässt, kehrt ein gleichmässigerer Wellengang ein. Eine weibliche Linie flechtet sich durch die Männerreihe, sie durchweben einander entsprechend der Wellen, die in unteren Schichten zurückströmen. Den Umschlagspunkt bilden sich duckende Rücken. Abwechselnd kommt eine Schar Männer, dann Frauen, wie angeschwemmt, wölbt sich rücklings über die Buckel und schwingt die Arme parallel einmal herum. Um dann abzutauchen, am Boden die Rücken zu stählern und die nächste Welle diesmal über sich ergehen zu lassen.

In den folgenden Teilen ebbt das Stück künstlerisch ab. Theatralische Bilder versuchen zwar noch die Tragik verschmutzter Gewässer zu evozieren, poetisch-metaphysische Zusammenhänge zwischen dem Salz unserer Tränen und den geschundenen Meeren zu beschwören. Doch die Metaphern für die Brüche unserer Konsumwelt sind abgedroschen, wenn z.B. in Endlosschlaufen Frauen von ihren hohen Absätzen knicken. Und wenn gar die Katharsis an der Ökokatastrophe nicht dem Zuschauer überlassen wird, sondern im Schlussteil, “reinigendes Wasser”, bildreich vorexerziert wird, hat sich jede Wirkung verwässert. Wann darf Tanz wieder Choreographien überschwemmen?