Dienstag, 28. April 2009

Peeping Tom


Grabes- oder Geburtsstätte?

Unter dem Baum und der Wiese spielt die letzte Episode der Trilogie der Companie Peeping Tom aus Gent, nach dem Garten (Le jardin, 2002), Salon (2006) nun das Untergeschoss (Le Sous Sol, 2007). Unter dem Baum und der Wiese ist meterweise Erde, wo ein Kellergeschoss nistet. Doch die Erde

übersät dunkel seinen Boden und dringt massiv durch seine surrealistischen Fenster. Das braune Grundelement, das den Erdenbewohner zuweilen duldet und herbergt, holt sich wieder den gespendeten Lebensraum. Hier noch eine Bühne breit. Und es schliesst bekanntlich den organischen Zyklus. Eine Tatsache, die der Mensch mit Blumen beschönigt und so legt gleich zu Beginn eine Greisin zittrig welche ab. An einer Stelle, wo früher - so wird suggeriert - ein Heim (wohl mit Salon & Garten) in Flammen aufging. Blumen schmückt auch eine bleiche Grabentfleuchte, ganze Kränze trägt, kreist und eiert sie um den Bauch. Ein seltsames Zwischenreich ist dieses Untergeschoss, wo Unterwelt und Nachwelt noch miteinander ringen. Die Figuren der vorherigen Episoden, Glieder einer reichen Familie im Niedergang, kriechen aus Erdgängen wie Maulwürfe empor. Sie treffen geistesabwesend aufeinander. Entspannt willenlos geschieht ihnen, was ihnen geschieht, entfährt ihnen, was ihnen entfährt. Sie verhängen und verkeilen sich, reissen einander beim Torkeln mit, beim Purzeln, beim geschwungenen Überschlag und kommen - fast gespenstisch - immer wieder auf die Beine. Zu zweit zu dritt knäueln sie sich, wer dachte, was mensch könnte, reihten sich ihm vier, gar sechs Beine statt einem Paar. Labile lehnen aneinander im fragilen Gleichgewicht, vorübergehend. Alles ist im Entstehen und Vergehen,  man lässt sich aufeinander ein, entspannt und ohne Schaden zu nehmen. Man glaubt sich im letzten Zen-Stadium, wenn nicht da plötzlich eine Stimme kommandierte: "Aufreihen! Nicht so! Und: Sti-i-lle Naaacht,..." Der taktweisende Mezzo-Sopran verpasst einem Engel (Gabriela Carrizo) Schlüssel samt Riesenschachtel für den Weg, und den gehörig Gereihten wird inszenierte Geschenkgnade zuteil. Freude stellt sich gehorsamst ein. Harfenklänge gesellen sich dazu und verlieren ihre Unschuld in der Beklemmung der heiligen Nacht.

Dann klopfen, unheimlich, hohle Tastenklänge des preparierten Klaviers von Schnittkes concerto grosso aus der Dunkelheit. Von fiesem Violinstrich durchzogen erreichen sie uns wie von der Schwelle ewiger Menschheitsklage. Es tauchen zwei Gestalten auf, einer von ihnen aufrecht. Breitbeinig steht er da, dem anderen ragen die Beine in die Höh'. Er hält diesen wie ein Schild vor sich, dann wie eine Lanze zu seinen Füssen in die Erde gerammt, oder wie einen Herrschaftsstab, den man sich hin und wieder auch in die linke Hand zuspielen darf. Während dieser andere kopfüber in der Erde oder in seinem Mantelkragen steckt.

Auf Messers Schneide ist das Stück platziert. Wo Stimmung und Bedeutung gefährlich umschwenkt. An ihrer weissen Haarpracht wird die Greisin herbeigeschleift, die stöhnend jeden Ruck quittiert. Ruckartig wird ihr Bein hochgerissen, der Arm hinterm Rücken verdreht, sie zurückgebogen, und ruckartig jault sie auf. Bis man kurzerhand von ihr ablässt, sie sich sortiert und mit unverbraucht hellem Gelächter davonhüpft (unschuldig-jugendlich die 80jährige Tänzerin Maria Otal). Sie wird zehn Minuten an den Lippen eines jungen Mannes - ihres frühverstorbenen Geliebten? - (Samuel Lefeuvre) hängen, und trotz Fliehkraft endloser Drehungen vom Boden bis in den Lüften an ihnen haften. Bis sie sich zum Kind zurückbildet, mit der Erde als Sandkasten, und zum Säugling an der Brust der tyrannischen Domina, der Sopranisten Eurudike de Beul.

Und wenn im Jenseits die Zeit rückwärts verliefe? Die aus den Grabeshöhlen hervorkriechenden Maulwürfe Würfe aus dem Mutterschlund wären? Und uns allen noch mal unser Leben bevorstünde: Himmel oder Hölle, oder eben ein seltsames Zwischenreich... Der Phantasie des an Alain Platel (Les Ballets C de la B) geschulten Choreographenteams um Gabriela Carrizo und Franck Chartier herum wäre ewige Wiedergeburt durchaus zu wünschen!

Die Trilogie ist demnächst zu sehen in Genf vom 29. 04 - 01. 05. 09 (ADC - Théâtre du Loup) und vom 18. - 30. Mai 2009 in Paris (Théâtre de la Ville / Les Abbesses).

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