Sonntag, 15. Juni 2008

Contact Improvisation



erschienen in ensuite Nr. 66/67, S. 11-13:


Jam-Session
Peter kommt auf seine Hände zu stehen, er glitt gerade von einer Schulter. Putzmunter baumelt die orangene Hose oben, Peter Aerni ist im Handstand gelandet, nicht gestrandet: er wird schon wieder abgeholt werden. Lange bleibt man nicht einsam bei der Contact Improvisation. Eine Jam-Session (ein aus der Jazzwelt entlehnter Begriff) ist dafür da, potentiell jeden mit jedem tanzen zu lassen. So kommt auch alsbald ein Rücken dahergeschwungen, - alles ist im Fluss -, wölbt sich und bietet den orangenen Beinen sein Kreuz dar. Das Auf- und Abladen geschieht ohne Hände, versteht sich. Denn Berührung geschieht in Contact Improvisation über die gesamte Hautfläche, nicht über den Tastsinn. Die Arme und Hände geben auch keine Ideen kund, verhelfen nicht zu ihrer Ausführung. Ob die orangenen Beine auf dem grünen Rücken zur Ruhe kommen wollen oder nicht, entzieht sich jeder manuellen Manipulation. Was sich entwickelt, ergibt sich aus dem Moment und aus der Wahl angebotener Möglichkeiten. Die Konzentration auf die Gegenwart ohne sich um Pläne und Erwartungen zu scheren, hat etwas von asiatischen Weisheiten. Natürlich hätte Peter sich nicht in die verdrehte Lage gebracht, wüsste sein Körper nicht um etliche schmerzfreie Auswege. Jahrelang werden solche Auswege eingeübt, wird der Fall rollend abgefangen. Jeder muss sich selbst aus den Situationen, in die er sich bringt, retten können. Diese Einsicht, eine wahre Lebensschule, verpflichtet jeden, seine Grenzen kennenzulernen, sie aber auch zu erweitern. Bei einer Jam-Session treffen nun solche grüne, blaue und orangene Jogginghosen aufeinander, die sich über Jahre diszipliniert beulten und nun übermütig ein Rad schlagen. Am besten über den gerade gewölbten Rücken eines Andersfarbigen. Die Freude an Überraschungen ist befreiend, das wissen wir seit unserem Hervorpreschen aus dem Versteck der Kinderstube. Gelächter gehört ebenso zur musiklosen Geräuschkulisse wie das freie Atmen oder das Marschieren der Fussgänger, der ‘pedestrian’, wie die Pioniere dieser Tanzrichtung in den USA auch genannt wurden. Das immer wieder mal eingelegte gemächliche Laufen lockert die Formationen auf, bricht entstandene Paarkonstellationen ab und ermöglicht neue Begegnungen. In Zeiten immer schnellerer Mobilität ist diesem Potential der Fussgänger aus dem Weg zu gehen, eben: zu umfahren. Der Blick der Tänzer ist nach innen gerichtet, denn Begegnungen entstehen nicht über Augenkontakt. Der Fussgänger lauscht in sich hinein, denn er möchte auf mögliche Einwirkungen und freudige Überraschungen gefasst sein. 
Heute bietet die Jam ein Ausklinken aus dem Netz von Handlungsverstrickungen, das unser Leben bildet. Einem Netz, dessen Fäden Richtung Zwecke gespannt sind, die aus unserer Perspektive erstrebenswert sind, welche wiederum durch Fäden, den wohlfundierten Gründen, die wir anhäufen, möglichst weitverzweigt abgesichert sind. Am besten bewegen wir uns im Netz von einem steten Hintergedanken begleitet, uns aus jeder misslichen Lage zur Not blitzschnell abseilen zu können. Fäden sind geknüpft allenthalben auch an Personen, denen Rollen zugewiesen sind. Je mehr, desto besser. Je fester, desto besser. Selbst wenn sich nicht alle Verbindungen zu Seilschaften auswachsen, erwarten wir von jedem, zumindest unser absicherndes Netz nicht einzureissen. - Einjegliches Spiel bietet da ein Ausklinken. Was aber, wenn dort erneut Rollen lauern? Ein Mannschaftsführer, ein Rechtsaussen. Was aber, wenn wie in jedem Katz-und-Maus-Spiel das Verlieren nie für die Katz ist? Wenn das Spiel nämlich auf den Sieg ausgerichtet ist? Eine Jam-Session dagegen bietet Spiel ohne Sieg und ohne Rollen. Besser noch, mit frei wechselnden Rollen. Jeder darf agieren oder nur reagieren. Überlassen wir es der augenblicklichen Lust. Eine Jam: Die auf zwei Stunden ausgedehnte Gegenwart, in der man dem Augenblick die Möglichkeiten ablauscht.

Die heissen Anfänge in den 60ern
In den Anfängen aber waren Jams nicht Inseln im Alltag und erworbene Freiräume.
Nein, in den Anfängen hatte die aufmüpfige Jugend der 60er bereits Kahlschlag betrieben. Sie weigerte sich, am sozialen Netz weiterzuknüpfen. Sie verachtete das Flechtwerk einer autoritären Gesellschaft, das den Lebensabend in Wohlstand generiert. Sie scheute sich nicht, die Fäden einer zweifelhaften Solidarität hinter sich niederzureissen. In Amerika wurde von ihnen Solidarität mit dem Vietnam-Krieg verlangt und mit einer diskriminierenden Gesellschaft. In Deutschland mit der Kriegsgeneration und ihren verschwiegenen Verknüpfungen zum NS-Regime, in Frankreich mit der repressiven bourgeoisen Gesellschaft. Eine von tiefen Fragen getriebene Jugend bewegte beide Kontinente. In Amerika, zumal an der West-Küste mit einem eindeutig blumigeren Geist und ausgelasseneren Lebensfreude. Die Flower-Power schwelgte dank bewusstseinserweiternden und -erheiternden Stäubchen, Tropfen und Düften. Sie waffnete sich mit Tönen, die ihre Peace & Love-Mission in die Welt trugen. Keiner überhörte die weitreichenden Schallwellen eines Jimi Hendrix und wessen Herz schmolz nicht mit bei John Lennons “Give Peace a Chance”? Wer aber bemerkte die musiklosen Schritte eines Steve Paxton, der mit anderen Gleichgesinnten aus der Atmosphäre dieser Jugend heraus experimentierte? Die Medien übertrugen live die Musik der Zeit, auch die rockigen Tänze die darauf passten, doch unbemerkt blieb, wie im Stillen sich langsam ein Stil formte, der erst 1972 getauft wurde: Contact Improvisation. 
Paxton löste sich zu Beginn der 60er von Merce Cunninghams Companie und suchte eine demokratische Tanzform. Ihn leitete ein noch radikaleres Verlangen nach Offenheit für Bewegungen, welche zum Tanzen verwendet werden können, als seinen Meister Merce. “Im Ballett währte weiterhin die traditionelle höfische Hierarchie. Im Modern Dance (Graham, Limon, Lang u.a.) wurde dieselbe soziale Struktur genutzt, nur dass nun Magier statt Monarchen das Zepter schwangen. Postmoderne Tänzer (Cunningham […]) wahrten eine alchimistische Diktatur, verwandelten alltägliches Material in Gold, aber schöpften aus den klassischen und klassisch-modernen Quellen der Tanzkompanie-Struktur. Es war das Star-System. Es ist schwer, der breiten Öffentlichkeit andere Systeme zu vermitteln, sind wir doch von der Ausschöpfung der Persönlichkeit und in jedem Aspekt des Theaters von seinem Schein überwältigt”, analysierte Paxton im Jahre 1971 den Hintergrund des Tanzes der 60er. Neben der egalitären Idee prägte ihn auch das Zen-beeinflusste Credo im Umfeld John Cages, Bewegung nicht im voraus zu ersinnen. So viel, d.h. so wenig bildete den künstlerischen Hintergrund des entstehenden Tanzstils. Die unpathetische Anti-Genie- und Anti-Meisterwerk-Haltung seines Freundes, des Malers und Objektkünstlers Robert Rauschenberg, zersetzten den Kunstbegriff vollends. Die ersten Experimente (1961-64) wurden in New York in der Judson Church aufgeführt. Einmal waren Paxton und seine Genossen (Yvonne Rainer, Trisha Brown u.a.) nur mit einer amerikanischen Flagge bekleidet, die kaum das Gröbste verhüllte. Sie protestierten so gegen den Vietnam-Krieg. Alles weitere entstand auf Matten und in Turnhallen, in Studentengemeinschaften auf dem Campus. Auf dem Boden dieser Offenheit und Experimentierlust konnte nun der Samen der ‘Flower-Power’ aufgehen. Der Grund war bereitet, sogar beackert: Steve Paxton hatte zuvor auch Akrobatik studiert. Der Keim der Contact Improvisation war die Idee, den Tanz sich ereignen und jeden daran teilhaben zu lassen. Da die Hippies Gemeinschaft schätzten und Berührung nicht scheuten, entstand ein kontaktfreudiger Stil. Körpererfahrungen waren für die Hippies kein Tabu, und Tabus sowieso da, um sie zu brechen. Therapeutische Richtungen der Körperwahrnehmung (Alexander-Technik, Feldenkrais), aber auch asiatische Kampfsportarten wie Aikido flossen in die Experimente ein: “Wie kann ich Bewegungen, die auf mich zukommen, schadlos umlenken oder nutzen?” Als Nancy Stark Smith, eine noch heute bedeutende Mitbegründerin der Contact Improvisation, erinnert sich an die Arbeitsatmosphäre. Die Teilnehmer experimentierten und hausten am selben Platz, einem Loft in Chinatown. Die Arbeitsphasen waren nicht festgesetzt, sie entstanden aus ihrem Alltag. Sie probierten aus, welche Bewegungsmöglichkeiten bestehen, während zwei Körper in Kontakt bleiben. Und da Alltag und Experiment ineinanderschmolzen, so auch Tag und Nacht; die Ambiguität der Anfangsphase gesteht Nancy offen ein. Was aber herauskam, ist etwas gänzlich Neuartiges: Bewegungen, die man nie alleine vornehmen kann. Nicht im Sinne des Balletts, wo der Partner die dritte und vierte Pirouette der Tänzerin durch ein Spinnen ihrer Hüfte erwirkt oder ihre Sprünge erhöht und in der Luft ein Moment lang anhält. Sondern wie mechanische Kräfte zweier gleichwertiger Körper aufeinander einwirken, um etwas “Drittes” – wie die Insider sagen -, gar nicht genau Berechenbares, zu ergeben.

Die Gesetze der Dynamik
In der Theorie der Dynamik wird die Wirkung der Kräfte an starren Körpern (in der Statik) wie auch an bewegten (in der Kinetik) erfasst. Der menschliche Körper in seiner Kraftwirkung ist deshalb so schwer berechenbar, da an ihm statische und kinetische Gesetzmässigkeiten gelten. Wir finden an ihm das Hebelgesetz, aber auch die Zentrifugalkraft. Die Contact Improvisation nutzt gerne, wie die Vektoren zweier Körper in ihrem Aufeinanderprall eine neue Richtung einnehmen. Wir kennen alle die Übung, uns Rücken an Rücken mit einem Partner aus der Hocke zu erheben. Wir geben starken Druck nach hinten und leichten nach oben, daraus ergibt sich eine Vertikale Bewegung von uns beiden. Nicht, dass mechanische Gesetzmässigkeiten bislang im Tanz ungenutzt geblieben wären. Sie waren nur nicht um ihrer selbst willen erforscht und geschätzt worden. Nun spürte man ihnen nach und trägt sie mitunter zur Schau. Die Ästhetik des physikalisch Notwendigem an der Bewegung ist entstanden. Sie konnte aber nur zum Zeitpunkt entstehen, an dem die gesamte Oberfläche des Körpers gleich interessant, der frontale Blickwinkel auf ihn aufgegeben wurde, die aufrechte Haltung nicht mehr zentral im Tanz war und die Berührung jedweder Körperstelle mit jeglicher anderen keinem Tabu mehr unterlag. Und was daran ist Tanz? Nun, die Grenzen des Tanzes zu verwischen ist, wie die der Kunst im allgemeinen, den experimentellen Künstlern damals gelungen. Die Frage ist berechtigt, aber müssig; Contact Improvisation wurde auch mal Art-Sports genannt. Fest steht, dass Tänzer ohne Unterlass sich um diese Bewegungsart bemüht hatten, und schon in den Anfängen das vernachlässigte Formverständnis der Contact Improvisation zu entwickeln suchten. 

Contact Improvisation heute
Jam-Besucher verstehen sich nach wie vor oft als Teil einer Subkultur. Sie fühlen ihren ‘Pyjama-Tanz’ belächelt. Contact Improvisation war in Europa nie Ausdrucksform einer starken gesellschaftlichen Bewegung. Sie wurde auch nie zur Freizeit-Modeerscheinung wie Hip-Hop. Der Kunsttanz der 68er drückte sich in Deutschland im Tanztheater aus. Lange Zeit wurde so Contact Improvisation auch nicht in die Ausbildung für zeitgenössischen Tanz integriert. Das beginnt sich zu ändern. In Frankfurt lehrt Dieter Heitkamp seit 1998 an der Hochschule und gewinnt der Contact Improvisation eine didaktische Methode mit System ab. An der Folkwang-Schule in Essen ist Contact Improvisation ein fester Bestandteil. Und in den Niederlanden, die schon immer in moderner Tanzausbildung Vorreiter waren, steht Contact Improvisation an den Akademien Arnheim und Rotterdam auf dem Stundenplan. 
Die meisten Companien bauen heute auf die kreative Mitwirkung ihrer Tänzer. Und da Improvisation die Kreativität schult, der Kontaktaspekt wiederum den flexiblen Umgang mit den Mittänzern einübt, bietet Contact Improvisation eine ideale Basis für zeitgenössische Companien. Sie ist durchaus kompatibel mit verschiedenen Stilen. Indem sich Contact Improvisation auf die Nutzbarmachung physikalischer Gesetze konzentriert und ihre Bewegungen ansonsten im Prinzip stilneutral und natürlich sind, ist ein Choreograph, der die Contact Improvisation-Technik nutzt, an keinen Stil gebunden. Die Companien Drift und Öff Öff sind erfolgreiche Beispiele.
Und wie sieht die aktuellste Verwertung der Contact Improvisation aus?

Contact Improvisation hebt ab
Die Berner Companie Öff Öff Productions nimmt in ihrem jüngsten Werk die Contact Improvisation buchstäblich. Diese hat nicht nur Materialsammlung für den Choreographen zu leisten, Kontakt ist zentrales Thema: Tänzer werden aus ihrem autonomen Bewegungsfluss gerissen, abgeschleppt und an einzelne vertikale Fremdkörper gelehnt und hingebogen. Ein solcher Körper, wie unbewegt er auch sein mag, ist ein Eingriff in die Selbstbestimmung des Tänzers. Dieser erstarrt, erlauscht und erkundet haptisch das Ausmass des Fremdkörpers wie ein Blinder, wobei die gesamte Oberfläche des Tänzers einen Tastsinn bildet. Und weil der Fremdkörper durchsichtig ist, sehen wir die sich abreibenden Nasen, lauschenden Hintern, schnüffelnden Schultern. Und da entdeckt wird, dass der Fremdkörper formbar ist, sehen wir darin Nasen eintauchen, Hintern Sitz suchend, Schultern eingehüllt. Wir verstehen, das ist Kontakt pur. Wir zweifeln nicht, das ist Improvisation. Aber wo ist der Tanz? Nun: die vertikalen Raumkörper sind über 10 meter hoch und hängen vom Seilboden des Theaters, oder nun in der Probezeit von der Fabrikdecke des von Roll-Areals in Bern. Das laut Plan schon im Abriss ist. Was hängt, sind lange transparente Plastikschläuche, die, oben fixiert, eine eigene Schwing- und Schlenker-Dynamik entfalten, wenn sich ein Hintern an ihm absetzt, eine Schulter sich an ihm wiegt. Was braucht es mehr für den Contact-Tänzer, als diesen ausschwingenden Impuls einzufangen und in einen neuen Bewegungsfluss einmünden zu lassen. Das wäre schon Tanz genug, aber Heidi Aemisegger interessieren keine Soli, auch keine Duette. Sie hat eine siebenköpfige Mannschaft und sucht die wechselseitige Interaktion, die grösser angelegte Choreographie. So tauschen die Tänzer die Schläuche und treffen auch mal zu zweit auf einen. Es entwickelt sich eine spannende Idee, wenn sie vermeintlich von zwei Seiten dieselbe Schlauchwand erkunden - und den Tänzer dahinter entdecken. Der eine kann den Hohlraum des Schlauches ausloten. Mit blossen Händen, Ellebogen und Füssen stemmt er sich rundherum gegen die Schlauchinnenwand und reckt sich, immer höher, in die Lüfte. Und sitzt fest. Denn Stemmen impliziert in der Dynamik Kraft und Gegenkraft, die, ausgewogen, durchaus Stabilität erzeugen kann. Und, weil die Plastikfolie leicht nachgibt, bilden sich die eigentümlichsten Dehngestalten. Das hätte Laban in seinen kühnsten Träumen nicht ersinnen können: dass sein Ikosaeder einem auf die Haut schrumpft wie eine Fruchtblase, die man sich vom Leib halten will. Ein Kampf um die minimalste Bewegungsfreiheit. Beobachtet in klinisch reinen Reagenzgläsern, eben diesen Schächten. Heidis Erneuerung in der Contact Improvisation geschieht am sensiblen Punkt des Kontakts: Sie fügt dort ein hauchdünnes Medium ein, die transparente Plastikfolie. Deren Zwittercharakter ist perfide: sie ist durchlässig für Contact-Kommunikation, kann sie aber auch unversehens verzerren. Die Folie kann die Haut Gewicht, Druck und Streicheln weiterhin spüren lassen, kann aber ihnen auch als Schild abwehrend entgegengehalten werden. In der herkömmlichen Contact Improvisation dagegen konnte bislang noch niemand aus seiner Haut schlüpfen und dem Kontakt entkommen. Notausgänge zu studieren ist für die Kompanie ohnehin ratsam. Denn bald ist das Areal abgetragen und Öff Öff steht im Off. Mit dem abgemagerten Zuschuss von 30.000 Franken von der Stadt und denen des Kantons wird sie dann in der Subkultur untertauchen dürfen, von wo aus ihre Companie einst den Orbit (Luftstation in 17m Höhe) erklomm.

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