Montag, 28. April 2008

Gespenster, Ballettabend in Bern



Das Dramenskelett spukt

Man kann Ibsens Gespenster durchaus mit George Bernhard Shaw – wie die Berner Ballettchefin es tat - auf ihre Handlung zurückstutzen, die man chronologisch erzählt. Auf ein Skelett. Doch was Ibsen mit der Einführung analytischer Dramen für die Literatur liefert, nämlich Einblick in das Wachsen einer Persönlichkeit, Frau Alving, im Angesicht sich entblössender Wahrheit, erhalten wir dann nicht. 
Wir erfahren nichts vom Striptease einer in Schein verhüllten Gesellschaft, dessen Anstand der Pastor als Bürge der Moral nach Leibeskräften zu wahren suchte. Bis die Hüllen fallen. Bevor Frau Alving ihm aufbahrt, dass er ihr, einer gutgesinnten jungen Frau, den Lebensatem mit dem Korsett des Anstands abschnürte. Sie musste die Ehe mit einem trunksüchtigen Frauenhelden ertragen und nach aussen kaschieren. Unaufgearbeitete Vergangenheit sät die Samen in die nächste Generation. Der Vater treibt über die Erblast seiner Syphilis den Sohn buchstäblich in den Wahnsinn und über seine uneheliche Tochter, der angestellten Magd, in den Inzest.
Ibsen eröffnet die Szene fast biblisch mit dem heimkehrenden verlorenen Sohn. Die anfangs feierlich aufgelegte naiv tätschelnde Mutter reift anhand seiner erzählten Vergangenheit und des bemerkten Inzestverhältnisses zu einer verzweifelten verantwortungsvollen Frau heran – und gewährt ihm Sterbehilfe. Ganz anders bei Cathy Marston und ihrem Dramaturgen Edward Kemp. Statt Entwicklung erfährt Frau Alving eine Persönlichkeitsspaltung: in die junge und ältere Frau Alving. Dies geschieht im Moment der Geburt des Sohnes. Beide Figuren bleiben präsent auf der Bühne, schauen sich in die Augen, jene spricht dieser gut zu. Marston versteht den Titel Gespenster als “Echo der vergangen Zeit”, das hier (jugendlich dynamisch) personifiziert wird. Nur: Ibsen meinte viele. Er nahm die Tiefenpsychologie vorweg, wenn er in uns allen solche spukende verdrängte Gespenster vermutete. Nicht aufgearbeitete Vergangenheit klappert unter’m sittlichen Gewand der Gesellschaft. Aus der späteren “kritisch prüfenden” Frau Alving des Originaltexts wird bei Marston eine ältere Frau, die sich durch die jüngere manipulieren lässt. Die dem Sohn Gift verabreicht wie zur Erlösung aus dem Liebeskummer.
Ungeachtet der inhaltlichen Akzentverschiebung kommt einiges herüber: Dramatik, Spannung und Schauder. Hervorragende Interpretation des Berner Ensembles, sogar der zweiten Besetzung. Zu Zeiten eines Mangels an Liebe für’s Detail, hier findet man sie: Sprechende unverbrauchte Gesten, beispielsweise bei Frau Alving, wenn der Pastor geht. Sie hatte sich ihm anvertraut, er sie zurückgewiesen. Zurückgelassen, hält sie die flache Hand am waagerechten Unterarm vor den Mund, lässt den Ellebogen absacken und gen Himmel fährt die Hand der Versprechung. Ein Gelübde der Verschwiegenheit. Sehr eindrücklich sind auch choreographische Phrasen: Die Stirn dem Segen des Pfarrers entzogen neigen junge und alte Frau Alving frontal unisono eine arabesque penchée mit hängenden Armen zum Publikum hin, lassen den Kopf absacken und schütteln die Arme, eine Last von der Schulter. Auch Effekte weiss Cathy Marston einzusetzen: wenn die Magd und der heimgekehrte Sohn sich am Küchentisch amüsieren, Mehlstaubwolken wirbeln und einander bestäuben. Noch nach geraumer Zeit entfährt ihrem jugendlichen Überschwang und ihrer Drehung eine Staubwolke, ganz wie im Wilden Westen einem Spurt.
Der Überschwang ist auch ein Etikett der Choreographin, denn die Hebungen und Schritte, die ihr für diesen Abend einfallen, füllten ohne weiteres zwei.
Insgesamt ein anspruchsvolles Stück, empfehlenswert!
Wiederholung am Stadttheater Bern:
30. April 2008, 19:30h
4. Mai 2008, 18:00 h
1. Juni 2008, 15:00 h
3. Juni 2008, 19:30 h
5. Juni 2008, 19:30 h

1 Kommentar:

Phemios hat gesagt…

Tja, die Handlung hat tatsächlich etwas gelitten... Grotesk war, dass ich meiner Begleiterin zunächst die vertrackte Fabel von Ibsens Stück zu erklären versuchte und dann im Programmheft die plötzlich sehr übersichtliche lineare Version vorfand. Aber mich hat der Abend begeistert; der Reichtum an Gesten, Effekten und Einfällen, den du heraushebst, schaffte es, mich völlig in Bann zu ziehen. Jetzt freue ich mich auf Tanz4 nächste Woche!