Dienstag, 28. April 2009

Peeping Tom


Grabes- oder Geburtsstätte?

Unter dem Baum und der Wiese spielt die letzte Episode der Trilogie der Companie Peeping Tom aus Gent, nach dem Garten (Le jardin, 2002), Salon (2006) nun das Untergeschoss (Le Sous Sol, 2007). Unter dem Baum und der Wiese ist meterweise Erde, wo ein Kellergeschoss nistet. Doch die Erde

übersät dunkel seinen Boden und dringt massiv durch seine surrealistischen Fenster. Das braune Grundelement, das den Erdenbewohner zuweilen duldet und herbergt, holt sich wieder den gespendeten Lebensraum. Hier noch eine Bühne breit. Und es schliesst bekanntlich den organischen Zyklus. Eine Tatsache, die der Mensch mit Blumen beschönigt und so legt gleich zu Beginn eine Greisin zittrig welche ab. An einer Stelle, wo früher - so wird suggeriert - ein Heim (wohl mit Salon & Garten) in Flammen aufging. Blumen schmückt auch eine bleiche Grabentfleuchte, ganze Kränze trägt, kreist und eiert sie um den Bauch. Ein seltsames Zwischenreich ist dieses Untergeschoss, wo Unterwelt und Nachwelt noch miteinander ringen. Die Figuren der vorherigen Episoden, Glieder einer reichen Familie im Niedergang, kriechen aus Erdgängen wie Maulwürfe empor. Sie treffen geistesabwesend aufeinander. Entspannt willenlos geschieht ihnen, was ihnen geschieht, entfährt ihnen, was ihnen entfährt. Sie verhängen und verkeilen sich, reissen einander beim Torkeln mit, beim Purzeln, beim geschwungenen Überschlag und kommen - fast gespenstisch - immer wieder auf die Beine. Zu zweit zu dritt knäueln sie sich, wer dachte, was mensch könnte, reihten sich ihm vier, gar sechs Beine statt einem Paar. Labile lehnen aneinander im fragilen Gleichgewicht, vorübergehend. Alles ist im Entstehen und Vergehen,  man lässt sich aufeinander ein, entspannt und ohne Schaden zu nehmen. Man glaubt sich im letzten Zen-Stadium, wenn nicht da plötzlich eine Stimme kommandierte: "Aufreihen! Nicht so! Und: Sti-i-lle Naaacht,..." Der taktweisende Mezzo-Sopran verpasst einem Engel (Gabriela Carrizo) Schlüssel samt Riesenschachtel für den Weg, und den gehörig Gereihten wird inszenierte Geschenkgnade zuteil. Freude stellt sich gehorsamst ein. Harfenklänge gesellen sich dazu und verlieren ihre Unschuld in der Beklemmung der heiligen Nacht.

Dann klopfen, unheimlich, hohle Tastenklänge des preparierten Klaviers von Schnittkes concerto grosso aus der Dunkelheit. Von fiesem Violinstrich durchzogen erreichen sie uns wie von der Schwelle ewiger Menschheitsklage. Es tauchen zwei Gestalten auf, einer von ihnen aufrecht. Breitbeinig steht er da, dem anderen ragen die Beine in die Höh'. Er hält diesen wie ein Schild vor sich, dann wie eine Lanze zu seinen Füssen in die Erde gerammt, oder wie einen Herrschaftsstab, den man sich hin und wieder auch in die linke Hand zuspielen darf. Während dieser andere kopfüber in der Erde oder in seinem Mantelkragen steckt.

Auf Messers Schneide ist das Stück platziert. Wo Stimmung und Bedeutung gefährlich umschwenkt. An ihrer weissen Haarpracht wird die Greisin herbeigeschleift, die stöhnend jeden Ruck quittiert. Ruckartig wird ihr Bein hochgerissen, der Arm hinterm Rücken verdreht, sie zurückgebogen, und ruckartig jault sie auf. Bis man kurzerhand von ihr ablässt, sie sich sortiert und mit unverbraucht hellem Gelächter davonhüpft (unschuldig-jugendlich die 80jährige Tänzerin Maria Otal). Sie wird zehn Minuten an den Lippen eines jungen Mannes - ihres frühverstorbenen Geliebten? - (Samuel Lefeuvre) hängen, und trotz Fliehkraft endloser Drehungen vom Boden bis in den Lüften an ihnen haften. Bis sie sich zum Kind zurückbildet, mit der Erde als Sandkasten, und zum Säugling an der Brust der tyrannischen Domina, der Sopranisten Eurudike de Beul.

Und wenn im Jenseits die Zeit rückwärts verliefe? Die aus den Grabeshöhlen hervorkriechenden Maulwürfe Würfe aus dem Mutterschlund wären? Und uns allen noch mal unser Leben bevorstünde: Himmel oder Hölle, oder eben ein seltsames Zwischenreich... Der Phantasie des an Alain Platel (Les Ballets C de la B) geschulten Choreographenteams um Gabriela Carrizo und Franck Chartier herum wäre ewige Wiedergeburt durchaus zu wünschen!

Die Trilogie ist demnächst zu sehen in Genf vom 29. 04 - 01. 05. 09 (ADC - Théâtre du Loup) und vom 18. - 30. Mai 2009 in Paris (Théâtre de la Ville / Les Abbesses).

Mittwoch, 15. April 2009

Alter im Tanz


erschienen in Ensuite Nr. 76 S. 15-17:

Die erste Companie für Tänzer im Ruhestand
Nein, eine Companie für alte Tänzer könne man sich nicht vorstellen, erwiderte das französische Kultusministerium dem 50jährigen Tänzer Gérard Lemaître. Seinen Plan, eine ebensolche Truppe zu gründen, erzählte er daraufhin Sabine Kupferberg, langjährige Tänzerin am weltweit renommierten Nederlands Dans Theater (NDT). Diese plauderte den Plan aus, keinem geringeren als Jiri Kylian, ihrem Partner und Direktor von NDT. Innert eines dreiviertel Jahres stand die Truppe, genannt NDT 3.
Anfangs mit Argwohn beäugt hatte das NDT 3 viel zu beweisen. Dass es sich qualitativ einreihen kann hinter NDT 1 und NDT 2 (Junioren) und trotzdem künstlerisch Profil zeigt. Die Welt war neugierig, denn das Konzept war ein Novum. Namhafte Choreographen, die das Parkett des NDT schon kreuzten, sahen sich nun vom NDT3 gefordert: thematisch, technisch und ausdrucksmässig.


Ausdruckskraft
Die „Tänzer über 40“ (Sabine Kupferberg, Martine van Hamel, Gary Chryst, Gérard Lemaître u.a.), wie sich die Gruppe gerne nannte, hatten alle eine starke Persönlichkeit und geballte Präsenz auf der Bühne. Diese konnte ein Choreograph nicht so leicht übergehen wie Petipa es vor hundert Jahren bei der Schaffung seiner Schwäne tat. Die idealen Interpreten dieser Geschöpfe konnten, ja sollten blass sein wie ein unbeschriebenes Blatt. Den Mitgliedern des NDT 3 dagegen hatten Zeit und Erfahrung charakteristische Züge geschnitzt. Erzählt ein gezeichnetes Gesicht allein schon Geschichten? Vielleicht. Die Gesten, aber auch deren charakteristische Bewegungsart sind von sich aus ‚beredt’. Das ist aber nur eine Seite. Die andere ist, dass die Mitglieder alle ein beachtliches schauspielerisches Talent haben. Kein Wunder, dass Gastchoreographen wie William Forsythe in Marion/Marion (1991) just diesem Talent zur Wirkung verhalfen. Diese Idee ist aber nichts Neues. Das theatralische Potential reifer Tänzer hatte bereits das klassische Ballett, vereinzelt zwar, in Szene gesetzt. Beispiel: der grollende Zauberer Rotbart in Schwanensee. Die Rollen reifer Tänzer lieferten das nötige Gewicht für dramatische Wendungen. Wir leben inzwischen Zeiten, da nicht breit angelegte Handlungsballette zu besetzen sind und Tänzer keine Individuen aus einem klar umrissenen Libretto verkörpern müssen. Reife und markante Persönlichkeiten stehen in zeitgenössischen Stücken nicht grollend-beschwörend für einen konkreten Hofskanzler Rotbart oder allegorisch für bösen Zauber. Mittlerweile kann das Alter für sich stehen und als solches verhandelt werden. Werke, die dies anpacken, sind im Tanz ein Novum.


Seltenes Tanzthema: das Alter
Es ist eine Herausforderung für den Tanz, das Alter in den Blickpunkt zu rücken. Sie ist die einzige Kunstsparte, die erfolgreich genau dieses Phänomen aus ihrem Bewusstsein bannte. Während die Schwesternkünste Stücke wie Minetti auf die Bühne bringen und ihre Handlanger mit Feder, Pinsel oder Bogen in der Hand wie guter Wein reifen, präsentiert sich der Tanz wie ein ewiger Jungbrunnen. Es gibt selbstredend einen Unterschied, ob der Schöpfer, der Interpret oder sein Werkzeug altert. Zerschlissene Federn, Pinsel und Bögen werden ausgewechselt. Im Tanz jedoch entfällt mit dem Werkzeug, dem Körper, auch der Interpret. Hinzukommt die Besonderheit der Kunst von Terpsichore, dass ihr Schöpfungen nicht ohne Interpreten existieren. Sie werden nicht im stillen Kämmerlein gebraut, dort nicht zwischengelagert noch konserviert - wobei Bytes und Digits nun Abhilfe schaffen. Das köstliche Produkt wird dort nicht einmal vernascht. Obwohl youtube uns Kostproben bietet. Die vielleicht lebendigste Kunstform entsteht, wo der Zubereiter auf seine auserlesene Zutaten (die Tänzer) trifft und ist geniessbar nur, wo sie uns frisch aufgetischt wird. Wen w
undert’s dann, dass die am Markt besorgten zarten Beigaben das Werk würzen und den Geschmack bestimmen? Wen mag befremden, dass Choreographen‚ selbst alternde, vom ‚jungen Gemüse’ sich und ihre Themen beleben lassen? Zumal es scheinbar mühelos nachwächst? Ausnahmen sind da umso frappierender: Merce Cunningham bedient sich zwar junger Tänzer, um den computergenerierten Life-Forms-Figuren zu Leibe zu rücken. Für seine persönlichen Auftritte hingegen behielt er sich das Recht vor, den authentischen Merce, das zunehmende Gebrechen bis ins hohe Alter vorzuführen. Er setzte sich als Kontrapunkt zum ohnehin postmodernen Patchwork und wirkte wie eine wandelnd-hinkende Signatur im Bild. Eine weitere Ausnahme bildet das Tanztheater von Pina Bausch. Sie nimmt erst gar keine blutjungen Tänzer mehr in ihre Companie und freut sich, Gesellschaftskritik mit reifen Tänzern zu betreiben.

Dramatik: Trumpf oder Krücke? 
Der Stellenwert anspruchsvollen reinen Tanzes hat sich im Laufe Pina Bauschs Werksgeschichte verringert. In Orpheus und Eurydike (1975) trieb der Tanz noch die Handlung voran, in späteren Stücken wich er zunehmend dem Wort und der Geste. Pina Bausch soll einmal sinngemäss dazu gesagt haben: “Ich respektiere die Tanzbewegung viel zu sehr, als dass ich sie überall einsetzte. Sie ist wie ein wertvoller Anzug: er muss gut platziert sein.” Weisheit oder Alterserscheinung? Der Name Tanztheater ist redlich, er verspricht nicht mehr.
„Man muss sich nicht verleiten lassen, nur um etwas Langsamkeit ins Spiel zu bringen, den ‚Tänzern über 40’ Dramatik auf den Leib zu schneidern“, meinte Patrick Delcroix, ein Gastchoreograph des NDT 3. Gesagt, getan: Mit Grain de Folie (1997) versetzte er die vier Companiemitglieder in einnehmende Unbeschwertheit. Wenn ihr selbstvergessener Witz, eine Mischung aus Burleske und Slapstick, unschuldig daherkommt, wird Alter, das sich nicht ernstnimmt, sympathisch. Patrick scheint den Mitgliedern aus dem Herz zu sprechen. „Mit 50 habe ich Gefallen am Amüsement des NDT3 gefunden, mit 60 erst recht“, meint Gérard Lemaître, „ ich habe nicht mehr das Gefühl zu altern.” Sabine Kupferberg und Gérard fallen einander neckisch ins Wort: “ja, vielmehr zu verjüngen!” “Wir forcieren es aber nicht,” “- nur einmal schenktest Du mir ein Tübchen Augen-Lifting…” “Ja, und schau wie schön Du nun bist!” lacht Sabine. Zum NDT 3 habe das Publikum einen unmittelbaren Zugang gefunden. Es könne sich leichter mit ihnen identifizieren als mit den makellosen Jüngeren, heisst es in ihrem Dokumentarfilm.

Altersspezifische Themen
Es gibt im Repertoir des NDT 3 auch eine ernsthafte künstlerische Auseinandersetzung mit dem Alter und seinen Themen. Silent Cries schuf Kylian seiner Frau 1986, wenige Jahre bevor sie die Arbeit mit der Hauptcompanie aus Altersgründen aufgab. Bei der Wiederaufnahme für das NDT 3 suggeriert er Sabine bei den Proben: „Du musst durch diese Glasscheibe schauen wie auf Dein Leben, betrachte es: so war’s, ja. Du musst loslassen können: schön war’s, Adieu!“ Kylian präsentiert uns den (Rück)Blick auf einen Lebenszyklus, von der unschuldig daherkommenden Kindheit, staksend wie ein Reh mit furchtsamen Augen, bis hin zum Abschied.
In A Way a Lone to somebody no longer here (1998) behandelt Kylian Trauerarbeit in der Einsamkeit. Ein brennendes Thema für das Alter, das sich zunehmend von seinen verscheidenden Freunden zurückgelassen fühlt. In No sleep till Dawn of Day (1992) möchte Kylian nach seinen eigenen Worten die zeitlose Klage der Mütter vertanzen, wie sie sich ausser Stande fühlen, Ihr Kind zu trösten. Zwei Frauen tanzen auf ein Wiegenlied der Salomon-Inseln, das unter die Haut geht. Beide, in schwarz gekleidet, gehen mit den schaukelnden Wogen der Musik mit und brechen sie doch immer wieder ein. Ihre vorerst ausholende Bewegung beschreibt Sabine Kupferberg im Verlauf wie folgt: „Am Ende tanzen wir unisono. Wir tanzen dasselbe und werden älter
und älter dabei. Wir fangen mit grossen Bewegungen an, sie werden immer schwächer und kleiner und älter, bis wir uns fast gar nicht mehr bewegen können, das Licht wird dunkler und wir entfernen uns im Laufe des Wiegenlieds.“ Ob damit den Frauen diese Nacht nur die Kraft ausgeht oder allgemein den Müttern im Laufe der Jahre, das Werk bleibt eine Widmung an die Hingabe. Bis zur Auflösung. Getanzt von Frauen, denen versiegende Kräfte nicht fremd sind.

Den Blick auf einen Lebenszyklus in Partnerschaft gewährt uns der Schwede Mats Ek.
 Der zur Regiearbeit gebildete Meister der Psychologie fand vor Jahrzehnten seine Muse in der wohl begabtesten modernen Tänzerin Ana Laguna. Indem sie mit ihren gut 50 Jahren immer noch eine tanzende Eingebung für ihn ist und sie beide zudem alle Fazetten einer reifenden Partnerschaft leben, haben sie die Tanzwelt mit The Place (2007) um ein anspruchsvolles Werk für das neuentdeckte Sujet ‚Alter’ bereichert. Ein asketisches Inventar, ein Teppich mit Tisch darauf, ist alles, was Mats Ek braucht, um ein differenziertes Bild einer alternden Beziehung zu zeichnen. Unter den Teppich kann man viel Vergangenes kehren, man kann sich gleich dazulegen, wie Ana Laguna es tat, um ihrem Bühnenpartner Mikhail Baryschnikov eine Solopartie zu überlassen. Er rückt sich ins rechte Licht, zumal wenn er sich auf die Tischplatte hochschnellt. Sonst dient diese, dem Partner zuvorkommend die combrés enarrières (Rückenbiegungen) abzufangen oder sich schneller zum Gegenüber mit Windmühlen-Beinen hinüberzuschwingen. Ihre Beziehung ist so vielseitig wie ihr Umgang mit dem Mobiliar. Mal schleppt sie ihn samt Teppich quer über die Bühne, mal träumen sie Seite an Seite einer Vision entgegen, hoch oben auf dem (mit Teppich) gedeckten Tisch. Ihr Angesicht silbern erstrahlend. D
och enden wird es umgekehrt: Der sechzigjährige Baryschnikov tritt ab, der Tisch trauert mit allen Vieren gen Himmel und Ana Laguna zuckt fragmentiert bis das Licht erlöscht.

Zwei Stars über physische Bewältigung
„Mit 60 Jahren kann ich nicht mehr alles tanzen. Ich wähle mir die Choreographen aus, die mir zusagen. [...] Mats Eks Stücke fordern den Körper und Geist heraus. Sie sind hart für den Rücken und die Knie. Bei Mats Ek trägt jede Bewegung eine Bedeutung, obwohl sie nicht narrativ ist“, sagte Mikhail Baryschnikov vor der Aufführung in Lausanne zu Le Temps /2/. Ana Laguna gesteht der Ensuite: „Ich hatte in der Ausbildung in Spanien gelernt, mit der Technik Gefühle auszudrücken. Tanz ist eine Sprache. Ich kann schon seit 10 Jahren keine Rückbeuge wie früher machen. Was ich aber im Auge behalte sind die jeweiligen Gefühle, die zum Ausdruck kommen sollen. Nicht die gewählten ‚Worte’ sind entscheidend. Ein hohes développé [ein sich in die Höhe entfaltendes Bein] ist schlicht ein anderes ‚Wort’ als ein tiefes. Ein tiefes kann genau so gewichtig und bedeutsam sein.“ Auch wenn sie keinen Rat auf den Lippen hat, wie man im Tanz würdevoll altert, hält sie das Tanzen an sich für zeitlos. In den meisten Kulturen tanze jede Generation, auf dem Lande heute noch.

Das Gebrechen als Sujet
Selten, aber immer häufiger, wird in den aufführenden Künsten das körperliche Gebrechen thematisiert. Unsere Gesellschaft hält auf political correctness. Die New York Times sah genau darin ein mögliches Motiv für unsere zunehmende Akzeptanz. In den letzten Jahren scheut man weniger, Behinderte und eben auch Ältere auf die Bühne zu laden. Gemischt arbeitende Gruppen spriessen aus dem Boden: „integrative Tanzperformance“ nennt sich das. Mag dahinter nun tatsächliches Engagement stecken, eine Mode oder verlockende Subventionen. Tatsache ist, dass der zeitgenössische Tanz dafür den Weg geebnet hat: Er kehrte jedem Ästhetizismus den Rücken und mancheiner steuerte zu den elend-verwandten Windungen gar ein System bei (mit der CD-Rom Improvisation Technologies legte William Forsythe einen Grundstein, vgl. Ensuite Nr. 64). Tonangebend war besonders der Belgier
 Alain Platel, der nach seiner heilpädagogischen Arbeit mit Behinderten in seinen Choreographien überkommene emotionale und bewegungssprachliche Barrieren einriss. Die Tänzer von Les Ballets C de la B studierten mit ihm Filmaufnahmen pathologischer Fälle des Neurologen Oliver Sachs. Foofwa d’Immobilité, ein begnadeter schweizer Tänzer, setzt sich in seinem soeben uraufgeführten Stück Chore mit dem Tourette-Syndrom und der Symptomatik der Chorea auseinander. Das vererbte Selbstverständnis des Künstlers als Bürgerschreck, aber auch das der idealistischen tabubrechenden 68er leistete dem neuen integrativen Tanz Geburtshilfe. Der Tanzfilm “The Cost Of Living” (2004) vom DV8 Physical Theatre mit einem beinlosen Hauptdarsteller ist ein solch gewagtes Produkt. Da nehmen sich die Auftritte und Dokumentarfilme wie „Tanz mit der Zeit“ (2007) ergrauter arthrosegeplagter Tänzer vergleichsweise harmlos aus.
Künstlerisch aufgearbeitet ist der Werdegang zum Gebrechen des Alters in Nocturne. Martha Clarke zeichnet die Entwicklung einer Tänzerin vom Schwan zum Gang am Stock für das NDT 3 nach. Interessant an der Nocturne (1993) ist, wie die Scham, die jedes Gebrechen begleitet, sich aus einem poetischen Bild entwickelt. Der Schwan in weissem Tüll ist am Oberkörper bar jeder Bedeckung. Der Kontrast ist eindrücklich, zumal über ihrem Gesicht Stoff, ein Schleier, wieder zur Verfügung steht. Die sonst so stolzen Flügel aus dem Schwanensee hängen wie gebrochen vor der Brust um den Mangel zu kaschieren. Während die Tänzerin Bourrés, Arabesquen und gar Sissonnes (gesprungene Arabesquen) barfuss in federleichtem Tüll vollführt, lastet oben schändlich das Manko. Bis die Krümmung der Tänzerin am Ende so zunimmt, dass nur noch ihr Stock zählt. 

Tanzwerke durch Generationen geschleust
Ob Werke selbst altern und was an ihnen zeitlos bleibt, ist eine spannende Frage. Zumal im Tanz, wo das Werk von der Interpretation nicht ablösbar ist. Hier sind zwei Beispiele, wo Künstler ihr Stück einem Experiment unterziehen: dem forcierten Generationenwechsel. 
Der aufstrebende englische Choreograph Paul Lightfoot hatte schon seit längerem die pochenden Anfangsschläge der ‚Schicksalssinfonie’ Beethovens im Ohr. Dazu reifte in ihm das Bild von rieselndem Sand und einer Sanduhr. Als er einen Auftrag für ein Werk für das NDT 3 erhielt, nahm die Idee Form an: Wie gebärden sich altersbewusste Leute angesichts ihrer ablaufenden Zeit? Beim NDT 3: mit Humor. Eine überdimensionale Sanduhr hängt bedeutsam über den Köpfen der vier Tänzer und berieselt die Bühne. Gérard verstopft mit einer Hebung der Partnerin galant dem Sand die Bahn, Sabine wiederum schaufelt mit ihren Windmühlen-Armen den Sandstrahl auf die Umstehenden wie Wasser auf fremde Mühlen. Doch das Ende naht und die Musik erinnert an den Ernst. Als nun Paul Lightfoot nach Schliessung des NDT 3 wegen Misswirtschaft im Jahre 2006 sein Stück am Leben erhalten will, unterzieht er es einer Verjüngungskur. Die virtuose Company Introdans macht sich mit jugendlichem Elan heran und macht ein lustiges Sandspiel daraus. Adressiert an ein Publikum, das dem Sandkastenalter gerade entwachsen ist (frei ab 7 Jahren).
Auch Pina Bausch hatte die Idee, ihr Stück Kontakthof (1978) verschiedenen Alterstufen auszusetzen. Sehr erfolgreich tat sie dies in den letzten Jahren und nannte es „Kontakthof mit Damen und Herren über 65“ (2000). Insofern die Aufforderung zum Tanz, das Thema des Stückes, nur Verklemmungen, Kontaktunfähigkeit und eitles Gehabe aufbrechen lässt, ist keine Altersgruppe vor dieser (Selbst)kritik sicher. Unlängst liess sie das Stück gar von Teenies spielen.

Technische Herausforderung
Unelastische Rücken und Knie haben uns die Stars als Schwachpunkte genannt. Auch das Attackieren des Bodens, indem man seinen Körper aufs Parkett brettert, halten die Knochen nicht mehr aus, erklärte uns Ana Laguna. Mit Technik könne man aber viel wettmachen. Das Bein vermag zwar nicht mehr in aller Ruhe in Adagios die Höhen zu erklimmen. Doch dafür im Allegro: aus dem Laufen heraus stürzt Ana ihren Kopf vornüber in die Tiefe und reisst aus dem Schwung ihr Bein seitlich im Halbrund hoch. Wenige Choreographen sind in der Lage, technischen Einschränkungen kreativ zu begegnen. Und einer beim Tanzen verspannten Schulter den Tipp zu geben: „beweg Dich unaufhörlich mit den Armen mit, das lockert!“, wie Kylian es mit sanfter Stimme tut. Wenige packen die Herausforderung an und suchen unverbrauchte (schon gar nicht der Revue und dem Vaudeville entlehnte) Schritte. Wer die Qualitäten älterer Tänzer verstanden hat, setzt auch nicht auf eintönige Langsamkeit oder Selbstbespiegelungen und Ablenkungen mit Videoprojektionen. Der nutzt ihr Spiel mit der Energie und die Kontrastfähigkeit ihrer Dynamiken, die gutplatzierte Gelassenheit, weil Körperteile und ganze Muskelgrupppen wohl mittlerweile wissen, dass es nicht ständig auf sie alle ankommt. 

Wiederbelebungsversuche
Das Konzept des NDT 3 war gut, es hat sich über 15 Jahre bewährt. Es hat bald Nachahmer gefunden wie das 40 Up Project in New York. Andere öffneten sich dem Alter wie Liz Lerman's Dance Exchange oder Jean-Claude Galotta Dance Company mit seiner kürzlich in der Schweiz präsentierten Version von Ulysses. Warum sollte man gegen den (auch demographischen) Trend gerade das NDT 3 zu Grabe tragen? Man hat sich deshalb im Nederlands Dans Theater um eine Wiederbelebung bemüht. Da brach die Finanzkrise aus. Sie hat die Pläne und Geldrücklagen vernichtet/3/. “Einstweilen”, heisst es im Management. 

/1/ Alle Dialoge des NDT3 sind dem Dokumentarfilm Can't Stop (1998) now entnommen. Produced by: Productions En Commun and Stormy Nights Productions.
/2/ Interview vom 20. Dez. 2008 in Le Temps.
/3/ gemäss E-mail-Austausch mit der Managerin des NDT, Jet de Raniz, von Mitte März 2009.  

Sonntag, 5. April 2009

Ausblick April 2009

erschienen in ensuite Nr. 76 S. 17:


Peeping Tom: Trilogy
Die erstickende Erfahrung des Züricher Publikums nach der Produktion Caravane (1999) - wer erinnert sich? - soll die beiden Choreographen Gabriele Carrizo und Franck Chartier zur Gründung der Truppe Peeping Tom, auf englisch ein Synonym für Voyeur, bewogen haben. In sieben Jahren entstand Jardin, Salon und Sous-sol, die uns mit viel Humor Einblick in das Spektakel eines Lebens gewähren, das sich zwischen Generation, dem Normalen und Abnormalen, und Kunstgattungen überschlägt. Das an Les Ballets C de la B geschulte Tanztheater Peeping Tom beleben nicht kategorisierbare, dafür exzellente Tänzer, hochbetagte Schauspieler sowie eine Sopranistin.
Ort: Dampfzentrale, Marzilistr. 47, Bern 031 310 05 40
Datum: 22., 23., 25. April 20 h


Angelj Preljocaj: Noces /Empty moves

Einen wahren Leckerbissen bieten uns die Welschen. Was macht es, dass wir für die französische Haute Cuisine (aus dem Centre choréographique nationale von Aix-en-Provence) den Röstigraben überqueren müssen. Angelj Preljocaj, der in Paris und New York auftischt, ist ein zeitgenössischer Choreograph, aus dessem technischen Anspruch die solide (auch Ballett!)-Ausbildung hervorlugt. Von Merce Cunninghams Einfluss zeugt sein Stück Empty Moves (2007) zu einer Tonspur mit John Cages Stimme.
Ort: L'Octogone Théâtre, avenue de Lavaux 41, Pully
021 721 36 4
Datum: 17. April 20:30 h


Zürich/Bern
Das Züricher und Berner Publikum hat die Fäden in der Hand in Foofwa d’Immobilités neuem interaktiven Stück “The Making of Spectacles”.
Ort: Fabriktheater Rote Fabrik, Seestrasse Zürich 044 485 58 58
Datum: 2., 3. April jeweils 10 h und 20 h
Ort: Dampfzentrale, Marzilistr. 47, Bern (0)31 310 05 40
Datum: 4. April 20 h

Ballnächte des Schweizer Tanzfestes
Seit drei Jahren ist ein Wochenende des Jahres schweizweit für den Tanz reserviert. Mehr und mehr Kantone werden vom Fieber erfasst und machen Platz zum Einstieg in den Tanz aus einer Palette von A wie afrikanisch bis Z wie zeitgenössisch.
In Freiburg kann man mit Kylie Walters, Fabienne Berger und DaMotus aufs Parkett, in Bern animiert eine Tangotänzerin, der derzeitige Ballettmeister vom Theater und zwei in Rotterdam Ausgebildete der Tanzszene die Ballnacht. In Biel belebt man die Fussgängerzone, da HipHop von der Strasse kommt, und zeigt tags darauf auf dem Ball allen, wie’s geht. Zürich bietet eine Nomadin, einen Zirkuskundigen und eine Tänzerin der erfolgreichen Produktion “Öper Öpis” auf, um Stimmung in den Saal zu bringen.
Infos unter: www.dansetanzdanza.ch
Datum: 25. /26. April



Freitag, 3. April 2009

TV im April 09


Alain Platels Doku-Film

Mit diesem Film leistete Arte 2006 eine Hommage an die geschätzte Companie Les Ballets C de la B zu ihrem 20jährigen Bestehen. In die Hände des Bewegungsmagiers Alain Platel gelegt wurde der Film zum (dokumentarischen) Kunstwerk und erhielt 2007 den Dance Screen Award 2007. Der Film fragt nach der Herkunft und Arbeitsweise des Kollektivs - schon allein deshalb einmalig: die Companie entstand aus dem Abenteuer eines Künstlerzusammenschlusses, das zuerst von Freunden und Familienangehörigen getragen wurde. Mancheiner hat einen tanzfernen Hintergrund, Alain Platel beispielsweise war erst Heilpädagoge und arbeitete jahrelang mit schwerbehinderten Kindern, was dem Choreographenkollektiv einen sehr eigenen Schriftzug gab: hart aus dem Leben gegriffen und primär untänzerisch. Dafür somatisierend. Denn das Unterbewusste und Unkontrollierbare in uns lässt zappeln und entzücken... 
Der Film präsentiert 20jähriges Wirken samt Nebenwirkungen.

5. April 2009 11 Uhr Arte

Les Ballets C de la B par ci par là (60 min. version)/
De balletten en ci en là/Les ballets de ci de là (original title 110 min. version)
Belgium/France

Entered by Arte France
Production Company: Arte (France)
Co-Production Company: Les Films du Présent (France), Viens! (Belgium), Cobra Films (Belgium)
Producer: Patrice Nezan
Director: Alain Platel
Editor: Michèle Hubinon
Author: Alain Platel
Light Design: Samuel Dravet
2005/60'