Sonntag, 17. Februar 2008

Pina Bausch: Orpheus und Eurydike


Nach 33 Jahren wurde Pina Bauschs Orpheus und Eurydike im Pariser Palais Garnier mit dem Ballet de l'Opera de Paris aufgeführt. Das grosse Ereignis wurde am 16. Februar 2008 von Arte live aufgezeichnet.
Pina Bausch hat 1975 Glucks Musik vier Themen abgelauscht: Trauer, Gewalt, Friede und Tod. Diese Grundstimmungen strukturieren das Werk, nicht ein Handlungsfaden. Das Stück beginnt in Trauer um Eurydike. Während die Klageweiber wie der Chor der griechischen Tragödien die Szene kommentieren und die eigentliche Trauerarbeit leisten, irrt Orpheus wie verloren umher. Sein Blick bleibt nirgends haften, das heisst – er starrt gen Himmel, dann lässt er den Kopf hängen. Hat je ein Solist an der Pariser Oper sich wie hier Yann Bridand einen Abend lang ohne aufrechten Kopf behaupten müssen? Bei Pina Bausch ist dieses Motiv konstitutiv. Eurydike, seine Anvertraute, für immer aus den Augen verloren, was wäre da noch eines Blickes wert?
Die schwarzen Klageweiber biegen sich schmerzgeladen, dicht an dicht gedrängt, in verzerrte bis zum Anschlag gedehnte seitliche combrés. Den Kopf unbequem dagegendrehend, graben sie ihr Gesicht in den combré-Arm. Wer sonst sollte Trauer wahrhaft authentisch nachempfinden lassen, wenn nicht eine Tochter des deutschen Ausdruckstanzes? 
Die Götter bieten Orpheus die bekanntlich zweischneide Erlösung aus seiner Verzweiflung: er darf in den Hades, Eurydike nehmen - aber nicht anblicken. Der Hades ist von wilden Furien bewacht, so dass Pina Bausch ganz der Dynamik der Musik gemäss den ersten Teil des zweiten Aktes “Gewalt” betitelt. Darin fliegen die Furien über die gesamte Bühne, eine machtvolle Choreographie die auch technisch sehr abwechslungsreich ist, dank der Anwesenheit sowohl weiblicher als auch männlicher Furien (ja, man meint genderspezifische Wutqualitäten ausbrechen zu sehen): geworfene Hebungen, man müsste sagen Schleuderungen sind so möglich, ebenso das Gegenhalten zweier weiblicher Furien durch männliche Hand, die sich wiederholt rücklings auf den Boden werfen (Nachhall eines Grahamschen backfall).
Zweiter Teil des III. Aktes: Im Elysium, schliesslich sind die Furien besänftigt, herrscht ein anderer Ton: “Friede” nennt Pina Bausch diesen Teil. Die sanften Toten, zumal nur weiblich ganz in pastell gehüllt, rufen nun doch dem Zuschauer Erinnerungen an gewisse Wesen (Wilis) der Tanzgeschichte wach. Mag sein, dass dazu einiges die leichte und romantische Armführung des Pariser Ensembles beiträgt. Vielversprechend sticht, mit kräftigerem Oberkörper versehen, eine hervor: Marie-Agnès Gillot als Eurydike. Ihre Arme sind weniger am Federleichten geschult, ihre Gesten gewichtiger. Man kann aus ihrem klaren Solo Bewegungsssequenzen herauslesen, die schon im I. Akt auftauchten und später wieder aufgegriffen werden: lange Arme über die Seiten hochgeführt bis zur Senkrechten über dem Kopf. Die Hände werden von dort zum Gesicht zurückgezogen während die Ellebogen verbleiben – nur spitz, einander berührend. Gen Himmel. Aus dieser Position wird sie im III. Akt ob Orpheus’ Kälte die Unterarme wie im Schrei hervorschleudern und den Kopf zurückwerfen. Doch vorerst wird sie Orpheus zugeführt.
Im letzten Akt, “Sterben”, wird Eurydike an Orpheus’ Hand gewahr, wie er sich von ihr abwendet. Und nichts erklärt. Diese Kälte kann sie nicht ertragen, nicht an Orpheus und nicht an ihrer Seite. Beide stehen von einander entfernt vor der beissend weissen linken Bühnenwand. Sie suchen schweigend ihre Gesichter darin zu vergraben. Nein, da will sie schon lieber zurück ins Totenreich. Sie schreitet wie gelähmt von hinten, zum Abschied, auf Orpheus zu. Das göttliche Geheimnis wie eine Kluft zwischen ihnen, bleibt sie ein Schritt hinter ihm, wölbt den Hals in einer Kurve zu ihm hinüber und senkt die Stirn sacht auf seinen Nacken. In diesen kleinen Gesten ist die Königin des Tanztheaters ganz gross. Orpheus stürzt in äusserste Gewissensnot. Er sinkt auf der Stelle in einer S-Kurve ins grandplié und immer wieder zu Boden, bis er sich aufrafft und – sie tief anblickt. 
Der Rest ist freigewählte Tragik. Seit dem 20.Jahrhundert wird die barocke Oper ohne die zweite Gnade der Götter beendet. 
Paris leistet mit dieser Einstudierung durch die ursprüngliche Besetzung aus Wuppertal ein grossartiges Zeitzeugnis, das Arte mit einem der seltenen Interviews mit Pina Bausch zwischen den Akten kürt. Wir haben die Gelegenheit, Zeuge zu werden von Pina Bauschs souveränem choreographischen Können, ohne modern Dance-Berührungsängste oder -Verdrängungen, mit der Wucht und Pietät, die Glucks Musik erfordert.

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